Kneipen, Karneval und Krombacher. Deutschland und Alkohol gehören einfach zusammen. Auf WG-Partys und Firmenfeiern zu trinken, ist so normal, dass ich mich teilweise dafür rechtfertigen muss, nicht zu trinken. Irgendwie bizarr, wenn man sich die Schäden vor Augen führt, die durch Alkohol entstehen können.

Weihnachten 2021: Ich höre auf, Alkohol zu trinken. Nicht, dass ich davor besonders viel oder häufig getrunken hätte. Ich hatte einfach das Gefühl, das Trinken würde mich davon abhalten, zu sein, wer ich sein wollte und konnte. Ich war bis dahin in vielen Bars und Clubs unterwegs und auch auf vielen Garten- und WG-Partys. Immer dabei: der Alkohol. Das hat auch Spaß gemacht, keine Frage. Aber trotzdem gab es hin und wieder Situationen, auf die ich im Nachhinein nicht stolz war.

Schon nüchtern kann ich sehr extrovertiert sein und auch ein schlechter Witz kommt mir leicht über die Lippen. In der Regel merke ich, wenn ich an die Grenzen meines Gegenübers gerate und kann mich zügeln. Mit Alkohol im Blut wurde mein Feingefühl allerdings recht träge. Spätestens am nächsten Morgen ereilten mich Schuld und Scham wegen mancher Dinge, die ich gesagt und die mein Alkohol getränktes Hirn für lustig befunden hatte.

Auch stand mir das Trinken hin und wieder dabei im Weg, mich an meine Vorsätze zu halten: Sport, die fünf Seiten, die ich noch für die Hausarbeit hatte schreiben wollen. All die produktiven Dinge, die ich mir für das Wochenende vorgenommen hatte, ließen sich umso leichter verdrängen, wenn ich am Tag zuvor getrunken hatte.

Diese Erkenntnisse schwirrten mir schon länger durch den Kopf und am ersten Weihnachtsfeiertag fasste ich dann den Entschluss, fürs Erste auf Alkohol zu verzichten. Direkt am zweiten Weihnachtsfeiertag war ich auf der nächsten – kleinen und durchgeimpften – Feier. Da ich kein Auto habe, ist es das erste Mal seit meiner Jugend, dass ich komplett nüchtern auf einer Party war. Meine Abstinenz ist auch einigen anderen Gäst*innen aufgefallen und so musste ich fast eine Stunde lang erklären, warum ich alkoholfreies Bier trinke.

Das Phänomen ist auch der Geschäftsführerin der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, Christina Rummel, bekannt: „In manchen gesellschaftlichen Gruppen ist man in Erklärungsnot, wenn man nicht trinkt und dafür keinen triftigen Grund hat, wie Autofahren oder Schwangerschaft. Da herrscht teilweise schon ein gewisser Druck.‟ Damit beschreibt sie genau die Erfahrung, die ich gemacht habe und die in mir den Eindruck erweckt, dass unsere Einstellung zum Alkohol vielleicht etwas in Schieflage geraten ist.

Caipirinha statt Pfefferminztee

Mir wird jetzt klar: Auf den meisten Familienfeiern wird Bier und Wein getrunken, nicht selten auch Hochprozentiges. Auf jeder Party, die ich besucht habe, tranken die Feiernden. In der Ersti-Woche ging es auf Kneipentour und sogar die meisten Verabredungen finden in Bars oder in Restaurants statt, wo häufig ein Gläschen Wein den Abend begleitet.

„Es ist beachtlich, wie normal Alkohol in unserer Gesellschaft ist. Wenn man sich beispielsweise Minze kauft, steht dort kein Rezept für einen Pfefferminztee, sondern für Caipirinha. Ich kann nur empfehlen, selektiv darauf zu achten, wo überall für Alkoholkonsum geworben wird. Und das scheint normal zu sein und dazu zu gehören‟, bestätigt mir Christina Rummel. Aber ist die Allgegenwärtigkeit von Alkohol wirklich ein Problem? Wohl jede*r weiß, dass es gefährlich ist, zu viel zu trinken, aber wo genau ist die Grenze und wie hoch das Risiko?

62.000 Tote pro Jahr

„Es gibt keine risikolosen Mengen, denn bereits ein kleines Glas Bier pro Tag ist für eine Frau gesundheitlich riskant. Bei Männern ist die Schwelle ungefähr doppelt so hoch und damit immer noch gering‟, sagt Christina Rummel. Jeder Deutsche trinke im Durchschnitt 123,8 Liter alkoholische Getränke im Jahr. Fast 6,7 Millionen Menschen würden riskante Alkoholmengen konsumieren und über 1,6 Millionen Menschen seien abhängig. All diese Zahlen stammen aus einer vom Bundesministerium geförderten bevölkerungsrepräsentative Erhebung zum Suchtmittelkonsum in Deutschland.

Wenn nun aber bereits so geringe Mengen gesundheitlich riskant sind und die Deutschen im Verhältnis dazu so viel trinken, dann müssten die Schäden, die durch Alkohol entstehen, ja enorm sein. Und das sind sie auch: „Das Trinken von Alkohol führt zu über 62.000 Toten pro Jahr und fördert auch die Aggressivität; etwa ein Drittel aller Gewalttaten entstehen unter Alkoholeinfluss‟, so Christina Rummel. „Allein die wirtschaftlichen Kosten sind immens. Die durch Alkohol entstehenden Kosten für Therapien, Behandlungen und die Strafverfolgung betragen etwa 57 Milliarden Euro jährlich.‟

„Die Gesellschaft hinterfragt Alkohol nicht genug‟

Wer jetzt den Eindruck bekommen hat, ich wäre für ein Alkoholverbot, der*die irrt. Wir sollten Alkohol aber mehr als das betrachten, was es ist: Ein Nervengift. Alkohol ist eine Droge, die nur ein unwesentlich geringeres Schadenspotenzial als Crack und Heroin hat, so eine renommierte Studie, die die Universität Duisburg-Essen in Kooperation mit anderen Deutschen Forschungsinstituten durchgeführt hat.

Es kann nicht schaden, sich das nochmal bewusst zu machen. So wie sich wohl jede*r von uns Gedanken machen würde, wenn sich in der Ersti-Woche alle fröhlich Heroin in die Adern jagen, sollten wir vielleicht auch darüber nachdenken, ob Alkohol denn immer dabei sein muss. Auch Christina Rummel sagt, dass unser gegenwärtiger Umgang mit Alkohol problematisch ist: „Die Gesellschaft hinterfragt Alkohol nicht genug, aber das scheint sich gerade zu ändern.‟

Ich selbst habe zwar mit vergangenem Weihnachten beschlossen, auf Alkohol zu verzichten, aber ich glaube nicht, dass Alkohol an sich nur schlecht ist. Ich hatte einige der lustigsten Erlebnisse bei ein paar Gläschen Wein. Und vielleicht ist es, wie so oft, der schmale Grat, auf dem zu balancieren, umso schwerer wird, desto höher der Alkoholpegel.

Bisher kann ich aber sagen, dass mir der Alkohol überhaupt nicht fehlt. Ich habe nun schon einige abstinente Barabende hinter mir und hatte genauso viel Spaß mit alkoholfreiem Bier. Aber ich will niemanden dazu überreden, nie wieder zu trinken. Ich empfehle nur jedem*r, wenigstens mal eine Zeit lang darauf zu verzichten. Mir hat es eine neue Perspektive verschafft. Weil ich stundenlang meine Abstinenz rechtfertigen musste, weiß ich nun, wie unangenehm es sein kann, der Einzige auf einer Party zu sein, der nicht trinkt. Damals hätte ich mir mehr Verständnis von meinen Freund*innen gewünscht, dass sie meine Entscheidung respektieren und mich darin vielleicht sogar bestärken.


Dieser Text ist in der UnAufgefordert #260 zum Thema „Aktenzeichen HU“ im Juni 2022 erschienen.

Illustration: Céline Bengi Bolkan