Kaum jemand unter 30 interessiert sich wirklich für die „deutsche Einheit“ – Freiheit, Umwelt und Europa wiegen viel schwerer. Die bundesdeutschen Anstrengungen, aus den Jubiläen von Friedlicher Revolution und „Wieder“-Vereinigung am 9. November einen nationalen Jubeltag zu machen, werden so lange ins Leere laufen, bis die öffentliche Erinnerung an beides ihre notwendige Trennung erfährt. Ein Kommentar zum Morgen danach

Nur zweimal ist es einer Minderheit in Deutschland gelungen, die Demokratie eigenständig gegen obrigkeitshörige und andere Beharrungskräfte durchzusetzen: Im November 1918 und in der Friedlichen Revolution, die das Ende der SED-Diktatur eingeläutet hat. Als Sternstunden der Freiheitsliebe und des Muts ihrer Akteure verdienen beide Ereignisse einen besonderen Platz in unserer Gedenkkultur, als Vorbild und Mahnung zugleich. Beide Revolutionen leiden aber darunter, in der öffentlichen Debatte stets mit ihren vermeintlichen „Ergebnissen“ verknüpft und damit überschattet und als Orientierungspunkte unbrauchbar gemacht zu werden. Der Dubliner Historiker Robert Gerwarth hat im vergangenen Jahr zurecht darauf hingewiesen, dass die Novemberrevolution, weil stets ex post als Anfang vom Ende der „zum Scheitern verurteilten“ Weimarer Republik bewertet, nie die Würdigung erfahren konnte, die sie verdient.

Die Einheit taugt nicht zur Heldengeschichte

Die „Deutsche Einheit“, bevor wir uns missverstehen, ist natürlich nicht mit dem Ende Weimars oder gar den Entwicklungen danach gleichzusetzen. Trotzdem stellt sich die Bundesregierung mit ihrer überparteilichen Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“, die seit diesem Jahr die Jubiläumskonzeption (und außerdem die unangenehme Plakat-Kampagne „Das ist sooo deutsch“) verantwortet, selbst ein Bein, wenn sie beide Ereignisse so eng miteinander verknüpft und feiert. Denn während sich die Friedliche Revolution als Erfolg überzeugter Demokrat*innen erzählen lässt, die sich unter widrigsten Bedingungen gegen Unterdrückung und Konformismus zur Wehr gesetzt haben, kann die Einheit kaum als Heldengeschichte erzählt werden.

Wenn Demokrat*innen die Akteure der Friedlichen Revolution sind, ist der wichtigste Akteur der Einheit die Kontingenz: Eine Abfolge komplexer, unter Zeitdruck und dem Einfluss von Wirtschaftsinteressen getroffener Entscheidungen und Pfadabhängigkeiten, die nicht den Triumph von Freiheit über Unterdrückung, sondern eher von historischen Sachzwängen über bewusste Entscheidungsfindung bedeutete. Um in der Bildsprache der Bundesregierung und dem Eindruck der Feiermeile am Brandenburger Tor zu bleiben: Sofern ich mich allen Ernstes mit einem schwarz-rot-golden-gestreiften Herzanstecker schmücken soll, dann bitte als Zeichen des Respekts vor der Bürgerbewegung und nicht im Gedenken an eine „Wieder“-Vereinigung, die für die meisten im Westen zunächst wenig anderes als eine Steuererhöhung und die meisten im Osten einen Zusammenbruch bewährter Sinnbildungssysteme bedeutet hat.

Niemand hat die Friedliche Revolution wegen der Einheit gemacht

Wer kann schon ein eindeutiges Gefühl im Zusammenhang mit der Einheit identifizieren? Mein zugegebenermaßen Berlin-Mitte-geprägter Eindruck ist, dass kaum jemand ein großes Problem damit hätte, mit der Existenz zweier demokratischer deutsche Staaten zu leben. Hauptsache, beide wären Teil der EU und und für unter 30 Euro mit der Bahn zu erreichen. Abhängig von der persönlichen Präferenz wiegen die europäische Idee oder regionale Zugehörigkeiten schwerer als der Umstand, in diesen oder jenen gesamtdeutschen Grenzen zu leben. Das Problem mit der Verknüpfung von Revolution und Einheit ist, dass sie eine irreführende Kausalität suggeriert: Als hätten die Bürgerbewegten Mitte der 80er, als hätte das Gros der Demonstrant*innen 1989 die Vereinigung der beiden deutschen Staaten zum Ziel gehabt, als wäre sie immer das große Ziel deutscher Zivilgesellschaft gewesen.

Wer heute mit DDR-Oppositionellen spricht, weiß, dass sie die Strapazen der Untergrundexistenz oder des offenen Widerspruchs nicht für eine wie auch immer geartete deutsche Einheit, sondern für die universellen Werte der Redefreiheit, des Rechts auf individuelle Lebensführung, Mitbestimmung und im Widerspruch zum Konformismus ihrer MitbürgerInnen auf sich genommen haben. Aus dem chaotischen Prozess der Wiedervereinigung lässt sich wenig für die Gegenwart gewinnen, abgesehen von der Einsicht, dass man das in dieser Form sicher nicht noch mal machen würde; von den Friedlichen Revolutionär*innen lässt sich aber eine Menge lernen, und deswegen sollten sie, mit ihren Forderungen und ihren Errungenschaften, im Mittelpunkt stehen.

Geschichte wird nur lebendig und kann zur Identitätsstiftung und Gegenwartsorientierung herhalten, wenn sie konkret erzählt wird, mit Akteuren, ihren Widersprüchen und allem, was dazu gehört. Mit der Formel von der „gescheiterten Revolution von 1918“ lässt sich wenig anfangen, mit der Geschichte der mühsamen Republik-Aushandlung zwischen sehr gegensätzlichen Interessen durch Friedrich Ebert schon eher. Sofern irgendjemanden daran gelegen ist, die Geschichte um das mythische Jahr 1989 produktiv zu machen, täten er oder sie gut daran, sie zu konkretisieren und die nachträgliche Kausalverflechtung vordergründig chronologisch verknüpfter Ereignisse zu vermeiden.

Die Einheit ist zu ambivalent, um gefeiert zu werden

Die Widerstandsgeschichte der Friedlichen Revolution lässt sich im Gegensatz zur Einheits-Erzählung tatsächlich zu einem emotionalen Erinnerungsort ausbauen, mit dem auch Nachgeborene etwas anfangen können. Hier finden sich nicht nur universelle Motive wie der Widerstand gegen Denkverbote, Unfreiheit und Verfolgung. Desto konkreter wir werden, umso deutlicher tritt die Geschichte der Revolution in ihrer Aktualität hervor. Dafür reicht ein Blick auf die Umweltbibliotheken, die bereits in den 80ern die Kompetenz und Menschenfreundlichkeit ihrer Regierung an deren Verwaltung der allgemeinen Lebensgrundlagen gemessen haben, damals ging es noch um lokale Luftverschmutzungen oder die Bedrohung durch veraltete Kernkrafttechnik.

Die „Einheit“ ist viel zu ambivalent, um als Folie gemeinsamen Gedenkens und Feierns herhalten zu können. Trennen wir Revolution und Vereinigung, schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Ehrliche Würdigung der Lebensleistung (eines Teils) der DDR-Gesellschaft und Auftakt einer ehrlichen Debatte nicht nur über die Konstruktionsfehler der Fusion von DDR und BRD, die Ilko-Sascha Kowalczuk mit vielen guten Argumenten als „Übernahme“ charakterisiert hat, sondern auch über die Gesellschaftsstrukturen, die die Diktatur möglich gemacht haben und heute in den starken Wahlergebnissen der AfD fortleben. Deswegen: Schluss machen mit der Einheitsmeierei (und die Schabowski-Konferenz muss auch nicht jedes Jahr in Dauerschleife laufen). Das öffentliche Andenken an das Ende der DDR kann 30 Jahre danach einen Neustart gebrauchen.