Die Wahlen stehen vor der Tür. Nicht nur in Sachen Klimawandel ist es fünf vor zwölf – auch politisch scheint ein Wendepunkt erreicht. Die Stimmung ist aufgeheizt, und der Diskurs dreht sich in einem Strudel hochfrequentierter Empörungswellen. Unsere Autorin nimmt uns mit in ihre Gedankenwelt – zwischen Wahlchaos, Ohnmacht und Hoffnung.
Endlich. Die letzte Woche des nie enden wollenden dunklen Wintersemesters ist geschafft. In mir wächst die Hoffnung, diesen seit Anbruch der winterlichen Dunkelheit festgefahrenen Knoten in meiner Brust loszuwerden. Keine Abgaben mehr, keine Seminare, keine Vorlesungen. So sitze ich nun zuhause und komme dennoch nicht zur Ruhe. Meine plötzlich freigewordenen Kapazitäten wollen von meinem verwirrten und stressgewöhnten Studi-Hirn so schnell wie möglich wieder vollgestopft werden. Die so neu gewonnene Aufnahmefähigkeit streckt sofort ihre Fühler in Richtung des nächsten Problems, das es zu lösen gilt: Die Wahlentscheidung.
Eine ungeheure Welle an Slogans, Meinungen und aberwitzigen Wahlkampfstrategien mit ihren zugehörigen diversen Einordnungen überrollt mich in allen erdenklichen Formen von Medien und spült mich hinaus in einen Wirrwarr endloser medialer Frames und Empörungswellen…
Ich erinnere mich an den 29. Januar. Die sogenannte Brandmauer fiel, die AfD und die CDU – allen voran Friedrich Merz – blickten siegessicher gen Wahlen. Hunderttausende haben sich seitdem auf die ebenfalls zum Kampffeld gewordenen brüchigen Straßen Deutschlands ergossen und mit Smartphonelichtern für den Frieden gewunken. Eine trügerische Einigkeit?
Besonders in meinem studentischen Umfeld kristallisierten sich zwei gegensätzliche Positionen deutlich heraus. Die einen argumentieren, sich den Demonstrationen fernzuhalten, da die Brandmauer schon längst gefallen sei, da eine große Partei schlimmer sei als die andere und es als unerträglich empfunden werde, neben diesen systemkonformen Menschen Seite an Seite zu demonstrieren. Die anderen argumentieren wiederum, man dürfe sich nicht innerhalb der Linken zerfleischen und es sei der entscheidende Moment, seine Stimme zu erheben.
Wenn ich nun so überlege, bin ich mir allerdings gar nicht so sicher, wie uneinig sich diese zwei Lager gegenüberstehen. Vielmehr scheint es mir so, als ob sich die einen lediglich der Ohnmacht gegenüber der Politik und ihren besorgniserregenden Entwicklungen längst ergeben hätten und Demonstrationen keine Impulsstärke mehr zugestehen. Währenddessen protestieren die anderen immer noch mit unermüdlichem Kampfgeist und einem Glauben an Selbstwirksamkeit – getrieben durch eine Hoffnung, die Rosa Luxemburg mit Sicherheit eine Träne im Grabe vergießen ließe.
Dazwischen stehe ich – gestresst und orientierungslos und versuche, mich nicht gänzlich aufzulösen. Ja, die SPD will auch im großen Stil abschieben, denke ich und erinnere mich wieder an zahlreiche feuchtfröhliche Utopien, geschmiedet bei überteuertem Späti-Bier und selbstgedrehten Zigaretten. „Wir bauen uns einfach eine Kommune auf und verpissen uns von hier. Wir nehmen alle mit. Aber vielleicht doch nicht in den Süden? Dort ist es schon zu warm.“ Naja. Erstmal Bachelor. Dann weitersehen.
Viel zu früh für meinen Geschmack erntete die CDU die Lorbeeren der gescheiterten Ampelkoalition. Mit seinem polarisierenden „Fünf-Punkte-Plan“ zur Migrationspolitik hat Friedrich Merz einen Entschließungsantrag in den Bundestag eingebracht, der reine Symbolpolitik ist.
Ja, es stimmt, dieser Antrag hat keine rechtliche Bindung. Und ja, er ist trotzdem von großer Bedeutung. Ich denke, dass symbolische Politik heutzutage einer der zentralen Schlüssel zur Wähler*innenrekrutierung ist. Denn genau das bleibt am Ende bei uns hängen: Große Worte, Übertreibungen, Verzerrungen – immer wieder zirkulär neu gewaschen.
Die CDU hat mit diesem Entschließungsantrag das große Thema des Wahlkampfes gesetzt. Dafür haben sie sogar das Opfer gebracht, die AfD weiter zu normalisieren, vielleicht auch mit der insgeheimen Hoffnung, diese Affäre könne sich gegenseitig befruchten. Klimapolitik, Bildung, Infrastruktur und soziale Gerechtigkeit – darüber wird kaum noch geredet.
Dieses Mal war es einer zu viel, Merz. Du hast zu hoch gepokert, denke ich betrübt und vergrabe mich noch tiefer in meinen dicken Wollschal, dessen Muster mich seit neuestem an die „Pali-Tücher“ erinnert und mich aus Angst vor den Konsequenzen in überfüllten Bahnen zittern lässt. Der wird nur noch zuhause getragen, wo ich wenigstens den süßlichen Duft nach Geborgenheit zwischen meinem Angstschweiß ausmachen kann. Ist mittlerweile alles zu einer Arena politischer Kämpfe geworden? Ich bin frustriert und fühle mich „von da oben“ absichtlich missverstanden. So, wie Chrupalla gerade erst bei „Hart aber Fair 360“ beharrlich an den Fragen der Zuschauer*innen vorbei antwortete.
Migration betrifft uns alle. Migration ist essenziell für das Funktionieren unserer Gesellschaft – besonders für uns Studierende. Die Universität ist ein Ort des Austauschs. Vielfalt ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Wissenschaft lebt von Perspektiven, von interdisziplinären und interkulturellen Ansätzen. Dies lässt sich genauso auf die Menschen übertragen, die dahinterstehen. Niemand wird leugnen können, wie wichtig unsere Sozialisierung, unser Werdegang und unsere Veranlagungen für unseren Beitrag in der Wissensproduktion sind. Migration ist Fortschritt. Austausch ist Fortschritt. Wir brauchen Räume für unsere vielfältigen Stimmen, damit sie geteilt und multipliziert werden können. Deshalb müssen wir demokratisch sein.
Ironischerweise wurde der Versuch der CDU, ein Stück vom großen Rassismuskuchen zu ergattern und sich dabei in der Selbstauflösung zu verlieren, gar nicht so gut von den Wähler*innen, einschließlich denen aus den eigenen Reihen, aufgenommen. Doch auch ich würde mich wohl im Zweifel immer für das Markenprodukt statt für den billigen Abklatsch entscheiden. Dennoch scheint die Lösung für Merz und andere Politiker*innen nach wie vor: Stets eine Brücke zu leicht entzündlichen Themen schlagen und immer und immer wieder den synonymen Quark in die Gemengelage einarbeiten.
Und dann geschah etwas Unerwartetes: Die Umfragewerte der Linken schossen so hoch wie meine Nebenkostenabrechnung Anfang des Jahres. Heidi Reichinneks Rede zur Abstimmung über Merz’ „Fünf Punkte Plan“ scheint einen Stein ins Rollen gebracht zu haben. Unzählige Male wurde sie mir bereits in meinen Feed gespült. Besonders jungen Leuten scheint sie genau das zu geben, was sie brauchen: Eine echte politische Vertretung. Möglicherweise ist sie das beste Beispiel seit Langem, dass die Politik sich verjüngen muss, um zukunftsfähig zu bleiben – und dass links sein auch cool sein kann. Die Linke feiert sich selbst. Strahlende, feurige und siegessichere Gesichter, gekürt von einem Banner mit der Aufschrift „Das Comeback des Jahres“ blicken mich auf meinem Bildschirm an.
Irgendetwas stört mich. Hat Merz seine Lorbeeren bereits verloren? Ist so viel Hochmut angebracht?
Wumm! Schon schießen mir wieder unzählige Beiträge durch den Kopf. „So könnt ihr am besten strategisch wählen! So hat eure Stimme einen Sinn!“ Noch nie habe ich mich so überladen gefühlt mit Meinungen darüber, wo ich mein Kreuz setzen müsse. War das schon immer so?
Allein durch die unerwartet gestiegenen Umfragewerte der Linken ist bereits ein guter Anteil der neoliberalen Argumente, eine Stimme an diese Partei sei vergeudet, geplatzt wie meine Träume, auch irgendwann Mal in meinem Leben sinnstiftenden Dünnpfiff in diesen aus der Kontrolle geratenen Diskurs zu geben. Nicht einmal der Real-O-Mat kann helfen, der bereits durch die Ampelkoalition starken Verzerrungen zum Opfer gefallen ist.
Wir Studierende sind viele. Wir können etwas verändern.
Ja, unser Alltag ist geprägt von Unsicherheiten und manchmal fühlt es sich an, als wäre dieses System schon lange an uns vorbeigezogen. Aber wir haben dennoch eine Stimme.
Strategisches Wählen? Halte ich persönlich für Quatsch. Aber ich glaube daran, dass Diskussionen, Meinungsaustausch und kritisches Hinterfragen entscheidend sind, alles im Zeichen demokratischer Werte. Eine Stimme ist niemals vergeudet und die Ohnmacht nur so lange real, wie wir sie akzeptieren.
Also: Schließt euch zusammen, diskutiert eure Meinungen, teilt sie, multipliziert sie – und geht wählen!
Foto: Gerd Altmann