Der politische Wind hat sich gedreht: Italiens Innenminister Matteo Salvini fährt einen harten Kurs der Abschottung und isoliert Italiens Häfen. Jan Schill und Thomas Schmidt waren Seenotretter. Mit den Hilfsorganisationen „SeaWatch“ und „Jugend Rettet“ haben sie Menschen in Seenot gerettet, bis ihre Schiffe nicht mehr auslaufen durften

Mit Ferngläsern ausgerüstet halten die Helfer*innen ab Sonnenaufgang Ausschau nach Menschen in Seenot. „Wir suchen den Horizont ab und bewegen uns 27 Meilen vor der libyschen Küste, also in internationalem Gewässer“, sagt Jan, der zusammen mit SeaWatch Geflüchtete auf dem Meer vor dem Ertrinken gerettet hat. Der Tagesablauf auf den Schiffen beruht auf einem Wachsystem: „Es gibt Sechs-Stunden-Schichten, in denen sich die Mannschaft abwechselt“, berichtet Jan. Zunächst auf einem alten holländischen Fischerboot, zuletzt mit einem ehemaligen Offshore-Versorger mit Kapazitäten für 350 Menschen. Die Mission der Retter*innen: Seeunfälle finden, die Menschen retten und Öffentlichkeit schaffen. Die Helfer*innen kamen aus aller Welt: „Wir sind sehr international und bestehen aus Studenten, aber auch Rentnern“, sagt er. Die Gruppe arbeitete komplett ehrenamtlich, die Ausnahme bildeten die fest angestellten Kapitäne und Mechaniker.

Die Helfer*innen wurden als erweiterter Arm der Schlepperbanden bezeichnet

Ein ähnliches Bild zeichnet Thomas von „Jugend Rettet“: „Die Schiffsbesatzung der zweiwöchigen Einsätze bestand aus professionellen Seeleuten für die nautischen Posten, erfahrenen Rettungskräften und Ärzten für die medizinischen Aufgaben, dazu Menschen mit Erfahrungen im Fahren von kleinen Schnellbooten, sogenannten RIBs, rigid inflatable boats, und anderen Helfer*innen“. Teil der Schiffsbesatzung konnte man durch ein Bewerbungsverfahren samt Interview werden, so Thomas.

„Frühes Aufwachen vor Sonnenaufgang, Einfahrt in die SAR-Zone (Search and Rescue), also den Suchbereich von zwölf bis etwa 30 Seemeilen (22 bis 55 Kilometer) von der libyschen Küste entfernt. Dort begann die Suche, indem die Iuventa, das Boot von Jugend Rettet, in Absprache mit anderen Rettungsschiffen und dem MRCC Rom, der Seerettungsleitstelle des italienischen Verkehrsministeriums, Suchmuster auf dem Wasser fuhr, während die Besatzung mit Ferngläsern in alle Richtungen den Horizont absuchte“, rekapituliert Thomas den Alltag auf dem Rettungsboot.

Wenn Boote gesichtet wurden, sei das RIB der Iuventa ins Wasser gesetzt und mit Rettungswesten beladen worden und dann zu den Geflüchteten gefahren. „Wenn man die Menschen an Bord beruhigt hatte, wurden die Rettungswesten ausgegeben, um die Situation zu stabilisieren. Dann wurden sie nach und nach entweder auf die Iuventa oder andere bereitstehende Rettungseinheiten wie andere NGO-Schiffe oder Schiffe der italienischen Küstenwache, der Marine oder der NATO-Mission Sophia gebracht“, sagt Thomas.

Eine Erfahrung habe sich den Besatzungen besonders ins Gedächtnis gebrannt: Die himmelschreienden Kontraste zwischen der idyllisch Szenerie des Mittelmeers und den Menschen, die sich zu Hunderten auf mitunter sinkenden Booten in Not befanden – teils verletzt, dehydriert, manchmal am Boden des Bootes eingezwängt und erdrückt. Desto überwältigender sind Thomas die Momente des Zusammenhalts unter den Schiffbrüchigen in Erinnerung geblieben: „Es wurde zusammen gesungen, es gab Gottesdienste trotz verschiedener Religionen“, sagt er.

Jan ist 28 Jahre alt und studiert Medizin an der Berliner Charité. Vor zwei Jahren stieß er durch ein Fernsehinterview auf die Organisation „SeaWatch“. Die von drei Brandenburger Familien ins Leben gerufene Initiative rettet seit 2015 Flüchtlinge, die im Mittelmeer in Seenot geraten sind. „Ich habe Anfang 2016 als Sanitäter an Bord angefangen“, erzählt der Mediziner heute. Zu seinen Aufgaben gehörte die medizinische Versorgung der Geretteten: „Wir haben oft Spuren von körperlicher und sexueller Misshandlung gesehen, manche Menschen sind auch während der Überfahrt gestorben. Bis auf solche traurigen Ausnahmen belief sich die Arbeit eher auf hausärztliche Versorgung.“ Rund zwei Jahre und sechs Einsätze später schaut er mit gemischten Gefühlen auf die aktuelle Situation. Als Einsatzleiter erlebte er den letzten Rettungseinsatz der Hilfsorganisation hautnah: „Die Situation war sehr frustrierend“, sagt Jan. Die maltesische Hafenbehörde habe der Mannschaft die Ausfahrt verweigert. Gründe seien nicht genannt worden. „Es wurde nicht wirklich nachgeforscht, sondern einfach nur verboten“, beschwert sich der Aktivist.

Das Schiff bleibt festgesetzt

Ähnlich schildert Thomas von „Jugend rettet“ seine Erfahrungen. Er ist ausgebildeter Bootsbauer, Student in Schiffbau und Meerestechnik an der Hochschule Bremen und seit Januar 2016 bei „Jugend rettet“. „Meine persönliche Motivation war und ist, dass die kontinuierlich auftretenden Bootsunglücke nicht einfach Naturkatastrophen sind, sondern verhindert werden können. Als jemand, der von und mit der Seefahrt lebt und arbeitet, erscheint mir das vollkommen absurd und moralisch absolut inakzeptabel“, meint Thomas. „Jugend Rettet“ wurde Ende 2015 von einem Abiturienten und einer Studentin in Berlin gegründet und wuchs aus einer Gruppe von Freunden und Mitbewohnern zu einer kleinen Rettungsorganisation mit einem richtigen Schiff und einer Besatzung.

Das erst im Frühjahr angeschaffte Schiff der deutschen Jugendorganisation, die Iuventa, sorgte für internationale Schlagzeilen, als es von der italienischen Küstenwache beschlagnahmt wurde. Die Anschuldigungen der italienischen Medien und schließlich auch der italienischen Politik, insbesondere durch Innenministers Matteo Salvini, waren schwerwiegend: Die Helfer*innen wurden als der verlängerte Arm der Schlepperbanden dargestellt. Das war im August 2017. Heute, ziemlich genau ein Jahr später, hat sich wenig geändert: „Aktuell sind unsere juristischen Möglichkeiten in Italien ausgeschöpft, da das höchste Berufungsgericht in Rom unseren Antrag auf Freigabe des Schiffes abgewiesen hat. Wir warten aber immer noch auf eine vollständige rechtliche Begründung – und das schon seit Monaten“, sagt Thomas. Mittlerweile fährt Italien eine Politik der Abschottung, die Häfen sind seit Juni für Schiffe von Flüchtlingshilfsorganisationen geschlossen.

„Die Vorwürfe an uns sind sehr alt, es gab sie bereits bei der italienischen Mission Mare Nostrum“, meint Jan. Trotz aller Behauptungen und Schlepper-Vorwürfen verneint er jegliche Form der Kooperation oder Kommunikation mit den Schlepperbanden: „Wir sind ganz klar eine Reaktion auf das Problem und nicht seine Ursache“, stellt er klar. „Die Lösung des Problems ist nicht Seenotrettung, das wissen wir. Menschen dürfen aber nicht ertrinken, um andere Menschen abzuschrecken.“

Menschen dürfen nicht zur Abschreckung ertrinken

Das Seerechtsabkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) verlangt in Artikel 98: Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist, a) jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten und b) so schnell wie möglich Personen in Seenot zu Hilfe zu eilen, wenn er von ihrem Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält, soweit diese Handlung vernünftigerweise von ihm erwartet werden kann. „Alle unsere Rettungsaktionen sind dabei vom MRCC Rom koordiniert und häufig sogar direkt angewiesen worden. Wir haben uns daher nicht nur immer im Rahmen des Seerechts bewegt, sondern auch noch mit italienischen Behörden direkt kooperiert“, stellt Thomas klar.

Jan fordert eine europäische Lösung: „Europäische Werte und Gemeinschaft sollten auch Zusammenhalt in moralisch-ethischen Fragen heißen“, sagt er. Die neusten Entwicklungen und die Odyssee der „Lifeline“ seien Beweis genug, dass eine strukturelle Lösung dringend benötigt werde: „Wir sind unglücklich und wütend darüber, dass die Menschenrechte, für die sich Europa selbst lobt, offenbar dann nicht mehr zu gelten scheinen, wenn Menschen es wagen, sich unaufgefordert unseren Grenzen zu nähern, um Frieden, Freiheit, Schutz oder eine Zukunft zu suchen“, meint Thomas.

Flagge zeigen für die Seenotrettung

Er wird konkreter: „Ein erster Schritt wäre ein staatliches, ziviles Seenotrettungsprogramm. Das würde bedeuten, dass man Schiffe finanziert, die den direkten Auftrag haben, nach Booten und Menschen in Seenot zu suchen – und zwar dort, wo wir wissen, dass die Menschen in Gefahr sind, nicht hundert Kilometer weiter nördlich“, sagt Thomas. Darüber hinaus müsse man legale und sichere Fluchtwege sowie Möglichkeiten zur Einwanderung zur Arbeitssuche schaffen. „Leider finden wir weder für das eine noch das andere einen realistischen Ansatz in der deutschen Politik – und das, obwohl wir nicht zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte mit solchen Flucht- und Migrationsbewegungen konfrontiert sind“, so Thomas.

Um das zu ändern, möchte er an die Öffentlichkeit gehen: „Wir werfen seit ein paar Wochen unser Gewicht – vor allem auch über unsere Botschafter*innen, also unsere Aktiven vor Ort – hinter Seebrücke.“ Die Seebrücke beschreibt sich als internationale Bewegung, die für sichere Fluchtwege und die Entkriminalisierung der Seenotrettung eintritt.

Ohne die Möglichkeit der aktiven Seenotrettung fokussiert sich „Jugend Rettet“ derzeit auf den Diskurs: „Wir glauben, dass die beste Art und Weise etwas zu tun im Moment reden ist. Und Flagge zeigen, vorzugweise orange im Sinne der Seebrücke.“ Auch Jan steht in engem Kontakt zum Seebrücke-Netzwerk: „Durch politische Aktivität in Deutschland und Malta möchten wir die Situation beeinflussen. Auf Malta wird außerdem versucht, das Schiff mit Hilfe von Anwälten aus dem Hafen zu bringen.“