Eine Stunde vor der Vorlesung noch in grünen Westen als Helfer*in: Viele Studierende, die am Hauptbahnhof als Ehrenamtliche unterstützen, befinden sich zwischen endloser Arbeit im Engagement und dem Versuch der Aufrechterhaltung des eigenen Alltages.

Am Hauptbahnhof kommen seit dem Beginn des Angriffskrieges in der Ukraine jeden Tag tausende geflüchtete Personen in Berlin an. Vor Ort haben Freiwillige ein Ankunftsort für geflüchtete Menschen konstruiert, dessen Strukturen nun gefestigt und organisiert sind. Für die Funktionsfähigkeit braucht es jedoch viele freiwillige Helfer*innen, viele von ihnen: Studierende.

Aufgefangen im Chaos

Die Ausschilderung auf mehreren Sprachen und die in blauer und gelber Farbe gekleideten Wegweiser, die auf vielen der grauen Säulen am Berliner Bahnhof kleben, leiten die ukrainischen Flüchtlinge zu den Informationsständen. Die Pfeile führen zum 1. UG neben dem McDonalds direkt über dem Gleis 1 und 2. Direkt neben dem McDonalds befindet sich die DB Auskunft. Sie beraten die ankommenden Personen und unterstützen sie dabei, ihren weiteren Weg zu planen. Seit dem 01.03.2022 können alle ukrainischen Bürger*innen mit dem sogenannten helpukraine Ticket deutschlandweit kostenlose mit der Deutschen Bahn fahren.

Den DB Stand links liegen gelassen, befindet sich rechts der abgesperrten Kids Corner, der Eltern und ihren Kindern versucht einen sicheren Platz zum Ausruhen und Spielen zu ermöglichen. Daraufhin folgt rechts ein Coronateststation. Gegenüber dieser Station befindet sich das Ziel: der Informationsstand, eine von Volunteers erbaute Ankommens- und Auffangstation. Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind circa 234.000 geflüchtete Menschen aus der Ukraine in Berlin angekommen. Im ersten Monat trafen täglich 10.000 Menschen am Hauptbahnhof ein. Nun schätzt der Senat die Zahl auf ungefähr 3.000 Menschen pro Tag.

Der Informationsstand ist einerseits für ankommende Geflüchtete und andererseits für Volunteers da. Ehrenamtliche Mitarbeiter*innen melden sich hier an und bekommen bei ihrer ersten Schicht ein kurzes Briefing, was die grundlegenden Regeln und Verhaltensweisen im Umgang mit geflüchteten Personen anbelangt. Die erfahrenen Volunteers erklären den Einsteiger*innen die organisatorischen Strukturen und alle Aufgabenbereiche.

Einen Vormittag im Gespräch mit ehrenamtlichen Studierenden

Die Freiwilligen empfangen mich mit einem offenen Lächeln und einer Bereitschaft, mir all meine Fragen zu beantwortet. Nach dem Briefing bekomme ich meine grüne Weste, an der mich nun jede*r als “offizielle” Helferin erkennen kann. Die Farbe der Weste musste aufgrund von Fälschungsversuche von Gelb auf Grün geändert werden und erhält zudem seit Neuerem ein gelbes Bändchen mit dem aktuellen Datum drauf. Personen hatten versucht, sich als helfende Personen auszugeben, um Menschen in ihren meist hilflosen Situationen auszunutzen. Die Polizei sprach vor allen Dingen von Männern, die zunehmend suspekte Hilfsangebote an Frauen richteten.

Überdies werde ich aufgefordert, auf Kreppband meinen Namen sowie die Sprachen, die ich spreche, aufzuschreiben. Dadurch können geflüchtete Personen direkt einordnen, in welchem Umfang ich ihnen helfen kann. Mit der Weste bleibt es mir als Helferin frei, wo ich nun helfen möchte. Ich kann zu einer jeweiligen Station hingehen und fragen, inwieweit diese Hilfe benötigen. Hilfe wird egal wie und wo benötigt.

Maria engagiert sich ehrenamtlich am Hygienestand für geflüchtete Menschen. Foto: Mascha Wenzel

Ich bin mit Marie am Hygienestand verabredet. Sie studiert slawische Sprachen und Literaturen und Geschichte an der Humboldt-Universität. Um sie anzutreffen, gehe ich durch die darauffolgende Unterführung, die eigentlich zur U5 führt. Dort stehen angeordnete Bierbänke und Stühle. Rechts befindet sich eine Essensausgabe und links der Hygiene-Stand. Mit Biertischen abgetrennt ist vorne eine Ausgabe, an der Menschen auf einer ausgehängten Liste von vorrätigen Spenden sagen können, was sie benötigen. Zwischen einer Rolltreppe und grauen Treppe stehen Regale mit Windeln und Klopapier. Hinter der Ausgabe steht Marie. Wir grüßen uns kurz, woraufhin sie mir zwei Plastikhandschuhe in die Hand drückt.

Seit Anfang März kommt Marie an diesen Stand und hilft bei der Organisation und der Verpackung von Hygieneartikeln mit. Im Vergleich zu März hätten sich nun die Strukturen etabliert und die Organisation dadurch vereinfacht. In der vorlesungsfreien Zeit sei sie hier zwanzig bis dreißig Stunden pro Woche gewesen. Neben der Uni schaffe sie es nun ungefähr fünf Stunden pro Woche: „Je mehr man an Hausaufgaben hat, hat man überhaupt keine Zeit mehr”. Seit dem Sommersemester hat sie nun auch ihren Job gekündigt, weil dieser ihr neben der Arbeit am Hauptbahnhof „bescheuert“ vorkam.

Überall fehlen Spenden: Leere Körbe und Verzicht

Während wir Wattestäbchen in kleine Plastiktüten verpacken, erzählt Marie von ihren Aufgaben hier. Neben dem Ordnen des Lagers und der Portionierung von Hygienemitteln könne sie nun auch durch ihre Erfahrung die Lieferungen der Spendenbrücke entgegennehmen und koordinieren. Bei der Spendenbrücke, mit Lager am Tegeler Flughafen, bestellt der Stand jeden Morgen die benötigen Artikel, um ihren Bestand für den Tag wieder nachzufüllen. Die im März noch dreimal täglichen vollen Lieferungen hätten sich nun auf eine Lieferung pro Tag mit jeweils nur ein paar Kisten neuer Spenden reduziert. Auf die Frage, ob diese Spenden reichen würden, antwortet sie klar: „Definitiv nicht”. Es sei sehr frustrierend, Menschen wegschicken und ihre grundlegenden Wünsche zurückweisen zu müssen. Windeln und FFP 2 Masken gäbe es meistens. Alles andere sei immer knapp. Sie zeigt um sich auf die leeren Körbe mit mehrsprachiger Beschriftung: Duschgel, Binden, Zahnbürsten…

Viele von diesen Spenden haben die hier arbeitenden ehrenamtlichen Personen selbst im Rossmann nebenan gekauft. Die großen privat Spenden seien komplett weggefallen. Sie würde sich wünschen, dass jede*r mehr darüber nachdenken würde, auf was man verzichten könnte, denn „die Leute, die hier sind, verzichten alle auf etwas, es läuft halt nur deswegen”. Diese Bereitschaft zum Verzicht und Priorisieren ihrer Zeit vereint all die hier helfenden Personen.

„Es gibt für jede Person, die hier ist, irgendeine Aufgabe zu tun“

Jan¹, der als Koordinator tätig ist, verzichtete auf seinen Alltag abseits seiner ehrenamtlichen Arbeit und des Studiums. Selbst erzählt er: „Ich habe halt kein Sozialleben, meine WG sieht mich basically nie, meine Familie sieht mich basically nie.“ Seit März engagiert er sich am Bahnhof und habe im ersten Monat täglich 15 bis 17 Stunden vor Ort verbracht. Nun komme er viermal pro Woche jeweils circa zehn Stunden hierher. Am Anfang fiel es ihm schwer, sein privates Leben von seiner Arbeit hier zu trennen – all seine Zeit und Energie hat er in das Volunteering gesteckt. Langsam schaffe er es wieder, seine Freunde für ein paar Stunden zu sehen: „Weil ich sehr klar jetzt mehr Grenzen ziehe zum Hauptbahnhof und mir wirklich sage: `OK, ich bin drei Tage die Woche fest hier`. Egal ob ne Lücke im Schichtplan ist oder nicht. Ich geh einfach nicht hin, weil das ansonsten so nicht mehr weiter funktioniert. Aber das konnte ich vorher auch gar nicht. Da habe ich nichts anderes gemacht.”

Zwischen „Sisyphos-Arbeit“ und anhaltenden Erwartungen in ihrem Studium finden die ehrenamtlichen Student*innen langsam eine Routine im Ausnahmezustand. Beide berichten mir, dass ihre Dozent*innen sie unterstützt hätten. Marie erzählt mir, dass die Flure in ihrem Institutsgebäude mit Postern und Abgabestellen für Spenden behangen sind. Das richte die Aufmerksamkeit auf ihre ehrenamtliche Arbeit und zeige anderen Studierenden, was und wie sie etwas machen können. Jan wünscht sich von der Humboldt Universität kostenlose Kurse auf Russisch und Ukrainisch und zudem auch Sprachkurse, damit Studierende Russisch und Ukrainisch lernen können.

Der Appell beider an alle Studierende ist, dass auch schon eine Stunde pro Woche oder ein zehn Euro Einkauf im DM für Spenden sehr hilfreich und unterstützend sind. Expliziter sagt Jan dazu: „Es macht keinen Unterschied, ob ihr eine Stunde, zwei Stunden oder zehn Stunden hier sein könnt oder auch nur einmal insgesamt oder zweimal die Woche. Es wird immer Hilfe gebraucht.” Zu jedem Zeitpunkt gäbe es eine Aufgabe, die sonst nicht erledigt werden könne. Innerhalb einer Stunde, in der ein Zug ankommt, könne man schon zehn Koffer tragen. „Auch eine Person, die sich zum Beispiel zu schwach fühlt, um einen Koffer zu tragen, kann zur Hygienestation gehen oder so. Es gibt für jede Person, die hier ist, irgendeine Aufgabe zu tun“.


¹Name von der Redaktion geändert.

Foto: Mascha Wenzel