Die Sache scheint klar: Erdgas ist der effizienteste und sauberste der fossilen Energieträger. Die perfekte Brückentechnologie. Doch stimmt das wirklich?
Was wir wissen und nicht wissen über die Klimawirkung von Erdgas.

Vor den Bundestagswahlen haben wir die Wahlprogramme der einzelnen Parteien analysiert. Nach einigen Monaten steht die Ampel-Koalition nun vor ihrer ersten Zerreißprobe. Der Grund dafür ist Erdgas. Beziehungsweise die Frage, ob Erdgas als nachhaltige Technologie in die EU-Taxonomie aufgenommen werden soll oder nicht. Da sind sich die Regierungsparteien nicht wirklich einig. Naturgemäß haben die Grünen dabei größere Bauchschmerzen als FDP oder Union. Auch in der Wissenschaft ist man sich bei der Frage, nach der genauen Klimawirkung von Erdgas, nicht ganz einig.

Bei der Verbrennung von Erdgas entsteht Kohlenstoffdioxid. Grün oder klimaneutral ist die Energie aus Erdgas also nicht. Allerdings verursacht Erdgas weniger Kohlenstoffdioxid-Emissionen als die alternativen fossilen Energieträger Kohle und Erdöl. Erdgaskraftwerke sollen in Deutschland deshalb als sogenannte Brückentechnologie eingesetzt werden. Das bedeutet, dass, bis nicht der gesamte Energiebedarf durch Erneuerbare gedeckt wird, Erdgas die Versorgungslücken füllen soll.

Gaskraftwerke lassen sich schneller an- und abschalten als Kohlekraftwerke und können, wenn entsprechend gebaut, auf Wasserstoff umgerüstet werden, argumentieren die Fürsprecher*innen. Bereits heute sind in Deutschland über 70 Gaskraftwerke in Betrieb. Nun will die Europäische Kommission Erdgas (und Atomenergie) in die EU-Taxonomie aufnehmen. Das würde bedeuten, dass Investor*nnen beim Bau von Atom- und Erdgaskraftwerken auf Fördergelder für nachhaltige Investitionen zurückgreifen könnten.

Aufgrund der Methanentweichungen bei der Förderung und Lieferung von Erdgas, wird in Politik und Wissenschaft seit Jahren darüber gestritten, ob Erdgas tatsächlich klimafreundlicher als Kohle und Öl ist. Die Frage ist also: Wie grün ist Erdgas wirklich? Die ehrlichste und einfachste Antwort ist: Man weiß es nicht! „Es gibt keine belastbaren Zahlen zum Methanverlust über die gesamte Lieferkette“, sagt Professor Volker Quaschning. Als Professor für regenerative Energiesysteme beschäftigt sich Quaschning seit  vielen Jahren mit der deutschen Energiewende. Aber erstmal zu den Grundlagen.

Je kürzer die Zeitspanne, desto klimaschädlicher ist Methan

Erdgas hat einen geringeren CO₂-Emissionsfaktor als Kohle und Öl. Bei der Erzeugung derselben Menge an Energie verursacht Steinkohle etwa doppelt so viel CO₂ wie Erdgas.  Zwar schwanken die Zahlen auch hier ein wenig von Quelle zu Quelle, aber im Kern ist das unstrittig.

Große Unsicherheiten gibt es bezüglich des wesentlich potenteren Treibhausgases Methan. Erdgas besteht größtenteils aus Methan. Um die gesamte Klimawirkung von Erdgas beurteilen zu können, muss also mit einbezogen werden, wie viel Erdgas unverbrannt in die Atmosphäre entweicht. Dabei reichen schon wenige Prozent aus, um die Klimabilanz von Erdgas deutlich zu verschlechtern.

In den ersten 20 Jahren ist die Treibhauswirkung von Methan, laut dem Weltklimarat (IPCC), 84-mal so hoch wie die von CO₂. Methan führt also zu einer 84-mal so starken Erderwärmung, wie dieselbe Menge CO₂. Über 100 Jahre ist die Wirkung noch 28-mal so stark. Das liegt daran, dass sich Methan schneller in der Atmosphäre abbaut als das langlebige CO₂. Die Klimawirkung des Gases hängt somit vom betrachteten Zeitraum ab. Je nachdem, welchen Zeitraum eine Studie betrachtet und von wie viel Methanverlust sie ausgeht, fällt die Bewertung von Erdgas unterschiedlich aus. Eine Studie des Thinktanks Energy Watch Group kam 2019 zu dem Ergebnis, dass die Umstellung von Kohle und Öl auf Gas den Treibhauseffekt der Energieversorgung gar um 40 Prozent erhöhen würde. Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) kommt in einer Literaturstudie zu einem anderen Schluss. Der Methanausstoß sei zwar ein relevanter Faktor, Erdgas habe aber dennoch „Klimavorteile im Vergleich zur Verstromung von Kohle“.

Einige Studien, auch die des BGR, betrachten die Klimawirkung von Methan über eine Dauer von 100 Jahren. Damit würde die wesentlich höhere kurz- und mittelfristige Wirkung von Methan ignoriert, kritisiert die Energy Watch Group. Eben diese Wirkung betrachtet der Thinktank mit der Begründung, die nächsten 20 Jahre seien „für die Vermeidung von Kipppunkten entscheidend“.

In den letzten Jahren erscheinen immer mehr empirische Studien über das Ausmaß von fossilen Methanentwichungen, etwa über Lecks in der Gasinfrastruktur. Dabei werden in den meisten Fällen Luftanalysen oder Infrarotkameras verwendet. Gas kann praktisch überall und über die ganze Lieferkette entweichen, an undichten Stellen in Gas-Pipelines, unentdeckten Austrittsflächen bei der Förderung oder Ventilen in Kraftwerken.

Die Umweltorganisation Environmental Defense Fund (EDF) hat in einer Serie von Luftanalysen, die Methanverluste in verschiedenen europäischen und US-amerikanischen Städten untersucht. In Hamburg fand der EDF zusammen mit Wissenschaftler*innen der Universität Utrecht 145 Stellen mit erhöhten Methankonzentrationen. Dem Hamburger Gasnetz entweichen, laut der Studie, jährlich 286 Tonnen Methan. Das entspricht etwa der Klimawirkung von tausend Autos innerhalb eines Jahres, wird Co-Autor der Studie, Stefan Schwietzke, in einer EDF-Pressemitteilung zitiert. Die Clean Air Task Force (CAFT) aus den USA will per Infrarotkameras Lecks in der europäischen Gasinfrastruktur ermitteln. Zusammen mit der Deutschen Umwelthilfe wurden signifikante Methanemissionen an 15 Erdgas-Anlagen in Deutschland nachgewiesen. Den zuständigen Behörden waren die Lecks unbekannt.

Klimaschädlichstes Erdgas kommt aus den USA

Quaschning geht davon aus, dass mehr Methan in die Atmosphäre entweicht, als in den Schätzungen der meisten Studien angenommen wird. Es gäbe zwar Untersuchungen zu lokalen Methanverlusten, aber keine Zahlen für die gesamten Lieferketten. Und tatsächlich steigen die atmosphärischen Methanwerte über die letzten Jahre rasant an und übersteigen prognostizierte Werte deutlich. Im September 2021 hat die Methankonzentration mit 1900 ppb (parts per billion) ein neues Rekordhoch erreicht. „Gehen über die gesamte Lieferkette weniger als drei Prozent Methan verloren, ist Gas besser als Kohle, sind die Verluste höher, eben nicht mehr“, erklärt Quaschning. Dabei spielt auch die Art der Förderung und die Transportstrecke eine Rolle. Von Norwegen ist der Weg nach Deutschland vergleichsweise kurz. Wird das Gas allerdings tausende Kilometer von Sibirien nach Deutschland transportiert, ist die Wahrscheinlichkeit für größere Verluste wesentlich höher. „Es gibt kein Rohr, aus dem nicht zumindest ein bisschen Gas entweicht“.

Besonders klimaschädlich gilt das Schiefergas aus den USA. Unter großem hydraulischem Druck wird der Boden aufgebrochen, um an das Gas in den Gesteinen zu gelangen. Ein Prozess der als Fracking, oder Hydraulic Fracturing, bezeichnet wird. Bei dem Aufbrechen des Untergrundes kann es zu mehreren, auch ungeplanten Austrittsflächen von Erdgas kommen. Der Methanverlust bei der Förderung gilt deshalb bei Schiefergas als besonders hoch. In Form von LNG (liquefied natural gas, Flüssigerdgas) gelangt das Gas per Schiff nach Europa. Dazu wird das Gas auf minus 162 Grad Celsius heruntergekühlt, sodass es flüssig wird. Die Energie, die durch die Verflüssigung, Kühlung und den Export verbraucht wird, verschlechtert die Klimabilanz weiter.

Ob es in Zukunft verlässliche Zahlen zu den Methanverlusten geben wird, ist fraglich. Schließlich lohnt sich für die Unternehmen, die das Erdgas fördern, zum Beispiel Gazprom in Russland, der globale Erdgasboom. Um den Kohleausstieg zu schaffen, sind Deutschland und viele weitere Länder auf Brückentechnologien angewiesen. Der Vorteil von Gaskraftwerken ist, dass sie in der Theorie auch mit Wasserstoff betrieben werden können.

Deutschland werde auch in 30 Jahren noch Gaskraftwerke brauchen. Allerdings nur wenige Stunden im Jahr, wenn zu wenig Sonne und Wind da ist und betrieben mit grünem Wasserstoff. Den Bau neuer Gaskraftwerke sieht Professor Quaschning deshalb kritisch. Anstatt über die Förderung von Gaskraftwerken solle man lieber einen Exitplan für Erdgas diskutieren, führt er weiter aus. Denn klar ist: Kohle mit Erdgas zu ersetzen, löst das Energieproblem nicht.


 

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