Thomas Lehmann, 20, studiert an der HU Geschichte und Sozialwissenschaften und im Fernstudium Jura an der Sorbonne-Universität in Paris. Er ist Leiter von „Les jeunes avec Macron“ in Berlin, der Jugendorganisation von Emmanuel Macrons Bewegung „La République en Marche“ (LREM). Den Berliner Ableger von „En Marche“ hat er mitgegründet. UnAuf-Redakteur Morris Reinmüller bat ihn um seine Einschätzung der politischen Lage nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Frankreich.

 

Unaufgefordert: „La République en Marche“ bezeichnet sich nicht als Partei, sondern als Bewegung. Warum wollt ihr nicht explizit eine Partei sein?

 

Thomas: Nicht ganz. Es war eine Bewegung und es ist immer noch eine Bewegung. Es hat angefangen mit der Kandidatur von Emmanuel Macron bei der Präsidentschaftswahl. Und das war das richtige Wort, um die Leute dazu zu bewegen, sich „En Marche“ anzuschließen. Wir waren auf der Suche nach der Unterstützung der Zivilgesellschaft und haben durch die Komitees eine neue Art der Demokratie entwickelt. Dadurch wird die Zivilgesellschaft in die Debatte eingeführt und gefragt, was sie über politische Fragen denkt. Inzwischen jedoch haben wir Abgeordnete im Parlament, deshalb wird es im Juli einen Kongress geben, bei dem die Bewegung in eine Partei umgewandelt wird.

 

Unaufgefordert: Emmanuel Macron hat beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 66% der Stimmen gewonnen und damit das zweitbeste Ergebnis in der Geschichte der 5. Republik erzielt, „La République en Marche“ gewann zusammen mit ihrer Partnerpartei „MoDem“ 350 der 577 Sitze im Parlament. Woran liegt es, dass Macron und LREM in Frankreich so große Erfolge erzielen können?

 

Thomas: Ich würde das in einem Wort zusammenfassen: Hoffnung. Hoffnung auf Resultate, auf ein europäisches Projekt, auf mehr Demokratie und auf mehr Repräsentation. Und es ist auf jeden Fall ein Versprechen von Ergebnissen auf dem Arbeitsmarkt, von mehr Schutz durch Europa, von einem anderen Projekt für den Staat. Außerdem zeigt es die Wut gegen die traditionellen Parteien wegen ihrer Affären.

 

Unaufgefordert: Und was würdest du sagen, wo liegt trotz aller Erfolgen die größte Herausforderung für Macron und LREM?

 

Thomas: Die größte Herausforderung liegt auf den Straßen. Es gibt in Frankreich eine große Wut, eine große Verzweiflung, die sich gegen die traditionellen Parteien geäußert hat. Marine le Pen war in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen und hat jetzt acht Abgeordnete, was viel ist für eine Extremistenbewegung in unserem politischen System. Und Mélenchon wird auch ganz stark Probleme für LREM schaffen, weil er viele Franzosen auf die Straße bringen kann. Ich glaube, das wäre unser Problem. Wenn die Straße gegen uns ist, dann heißt das, dass sich die Franzosen doch nicht so gut repräsentiert fühlen. Und die Reformen nicht umsetzen zu können, ist natürlich das schlimmste für uns.

 

Unaufgefordert: Damit sind wir bei dem Punkt der Arbeitsmarktreformen angekommen. Was genau sollen sie beinhalten?

 

Thomas: Die zwei großen Ideen dieser Arbeitsmarktreform sind es, Kündigungen zu erleichtern, um mehr Flexibilität herzustellen, und ein einfacheres System für die kleineren und mittleren Unternehmen zu kreieren, damit sie mit dem Administrativen besser umgehen können.

 

Unaufgefordert: Warum sind diese Reformen überhaupt nötig?

 

Thomas: Um die Arbeitslosigkeit in Frankreich zu senken, ganz einfach. Wir brauchen jetzt nicht ein Modell mit 450-Euro-Jobs wie in Deutschland. Aber wir sind auf der Suche nach einem mittleren Weg, wo es auf jeden Fall mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt gibt, aber gleichzeitig mehr Schutz der Individuen. Und im Administrativen wird es auch ein Recht auf Fehler geben. Die Reform ist also ein Ganzes und muss ganz schnell umgesetzt werden, damit wir die Wirkung in drei oder vier Jahren spüren können.

 

Unaufgefordert: Es formiert sich allerdings schon jetzt Widerstand gegen die neuen Regelungen. Was können Macron und seine Partei tun, um diesem entgegenzuwirken?

 

Thomas: Ganz viel mit den Gewerkschaften reden und nochmal die gleichen Modelle von LREM benutzen, das heißt Debatten, Diskussionen und vor allem Erklärungen, warum diese Reform nötig ist: Die Arbeitslosenquote soll gesenkt werden, insbesondere in den Banlieues. Das ist das große Problem in Frankreich und die Reformen helfen dabei, risikobereiter zu sein und Arbeitslose in einem Unternehmen zu beschäftigen. Sie können außerdem dazu beitragen, dass diese Menschen in der Gesellschaft mehr anerkannt werden.

 

Unaufgefordert: Ich möchte noch auf ein weiteres Problem zu sprechen kommen: Trotz des Erfolgs von LREM war die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen mit 42 Prozent die niedrigste jemals, bei den Parlamentswahlen haben mehr als 11 Prozent der Wähler ungültige oder leere Stimmzettel abgegeben. Würdest du sagen, dass das ein Zeichen von starker Unzufriedenheit mit der Politik ist? Und was kann Macron tun, um diese Menschen wieder für die Politik zurückzugewinnen?

 

Thomas: Das sehe ich auf jeden Fall als ein Zeichen von Unzufriedenheit mit der Politik, mit unserer Demokratie und als Verzweiflung vor den Affären der traditionellen Parteien. Macron hat mehr Repräsentativität im Parlament hergestellt, mehr Frauen, mehr Personen aus der Zivilgesellschaft und keine Karrierepolitiker aufgenommen. Was er machen kann, ist es, Reformen durchzuführen und Ergebnisse zu schaffen, die jeder Franzose spüren kann. François Hollande hat ganz viele Versprechungen während der Kampagne gemacht und fast das Gegenteil davon getan, als er Präsident war. Hier mit Macron ist es von Anfang an eine klare Linie: Erklären, warum diese Reformen nötig sind, und ein Versprechen von Ergebnissen.

 

Unaufgefordert: Du hattest gerade erwähnt, dass die neue Fraktion von LREM zu einem großen Teil aus Personen besteht, die bisher nicht in der Politik aktiv waren. Stellt ihr Mangel an Erfahrung nicht ein Problem dar? Und kann sich Macron überhaupt darauf verlassen, dass er die Unterstützung für seine Reformen im Parlament hat?

 

Thomas: Was die Kompetenzen angeht: Diese Männer und Frauen aus der Zivilgesellschaft sind alle Spezialisten eines Feldes. Hier in Europa haben wir z.B. Frédéric Petit, der in der Kommission für die ökologische Umwandlung seinen Blick als Ingenieur einbringen wird. Das Gleiche gilt in der Regierung. Wir haben immer Spezialisten, die sich in einer Kommission gut fühlen, weil sie die Themen kennen. Anders als bei den Politikern, die manchmal in Kommissionen sitzen, von denen sie keine Ahnung haben. Außerdem hängt es bei dieser Frage ganz viel von diesem Kongress ab und von den parlamentarischen Assistenten der Abgeordneten. Wir haben uns für unsere Abgeordneten die besten Assistenten ausgesucht.

Zweitens die Zuverlässigkeit: Es wird verschiedene Meinungen geben, das ist klar. Aber die Abgeordneten haben alle ihre Unterschrift gegeben, dass sie die zehn Punkte von Emmanuel Macron im Parlament unterstützen werden. Zudem wird bei dem Kongress wahrscheinlich eine bestimmte Disziplin für Abgeordnete mit einem wichtigen Amt eingeführt. Und es muss ein Gemeinschaftsgefühl geschaffen werden. Das existiert durch die gemeinsame Kampagne aber jetzt schon, würde ich sagen.

Ich glaube, dass es auf jeden Fall funktioniert, besser als mit Karrierepolitikern. Und wir werden die Ergebnisse bald beobachten können.

 

Unaufgefordert: Weil du gerade die Experten angesprochen hast, gab es ja aber auch Kritik am Kabinett von Macron, dass es – wie er selbst – eine Elite repräsentiert. Sowohl er als auch viele seiner Minister waren auf der Elitehochschule ENA. Vertreten sie denn überhaupt die französische Bevölkerung?

 

Thomas: Das ist etwas Anderes. Das ist Staatsfunktion. Insbesondere die Personen, die Positionen mit hohen technischen Anforderungen besetzen, werden an der ENA ausgebildet. Dass es das um den Kreis des Präsidenten gibt, ist auch immer so gewesen. Das ist vielleicht eine traditionelle Art des französischen Systems, bei Hollande und Sarkozy war es das Gleiche.

 

Unaufgefordert: Also ist das etwas, das nicht unter die Erneuerung fällt, von der Macron spricht?

 

Thomas: Ein bisschen schon, weil er dabei die alte Klasse der „Énarques“ rausgeschmissen und die neue Klasse, die sozialliberaler ist, mit sich genommen hat. Von dem her ist das eine komplexere Erneuerung der Ideen und Projekte.

Unaufgefordert: Du kennst dich mit der Politik sowohl in Frankreich als auch in Deutschland aus. Daher möchte ich zum Abschluss noch gerne wissen, was du den deutschen Politikern, die jetzt gerade im Bundestagswahlkampf sind, empfehlen würdest, sich von Macron abzuschauen?

 

Thomas: Ich würde empfehlen, wenn das geht, eine zivilgesellschaftliche Dynamik herzustellen. Also die politischen Versammlungen viel offener zu machen und die Ideen in der Gesellschaft entwickeln zu lassen. Parteien sind oft zu geschlossen. Bei Macron war es anders: Es gab eine Art Demokratie im Lokalen, man konnte in den Komitees für Ideen abstimmen. Wenn die deutschen Abgeordneten das hinbekommen, dann werden sie ein viel besseres Feedback von der Bevölkerung erhalten und dabei eine viel größere Bewegung für die eigene Partei schaffen.

 

Unaufgefordert: Vielen Dank für das Interview.

 

Thomas: Dankeschön.

 

 

Foto: Christian Bourguignon