Nach zehn äußerst produktiven Jahren beendet der Star-Regisseur Barrie Kosky seine Tätigkeit als Intendant der Komischen Oper. Es wird ein Umbau und das Exil des Ensembles im Schiller-Theater in Charlottenburg folgen. Die Kosky-Ära endet mit einer rasanten Revue, die unter dem Titel ,, Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue‘‘ die Massen an die Behrensstraße lockt. Ein Bericht über einen unvergesslichen Abend.

Zur Premiere in der warmen Sommernacht des 10. Juni 2022 hat sich die gesamte linke Hautevolee der Hauptstadt eingefunden. Alle werden sie im Vestibühl von Noch-Intendant Barrie Kosky begrüßt, geherzt und in den allermeisten Fällen auch geküsst. Ein leidenschaftlicher Mann muss das sein, der dort in Hawaihemd und Hornbrille all jene in die Arme schließt, die ihm lieb und teuer sind: allen voran Kulturstaatsministerin Claudia Roth, eine Duz-Freundin Koskys, WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger, Aktivist und Regiekollege Rosa von Praunheim, einige verstreute Abgeordnete der SPD und der Grünen genauso wie der frühere ,,Aspekte‘‘-Moderator Wolfgang Herles.

All‘ jene sind anwesend, um Zeugschaft abzulegen für den Einfluss, den der scheidende Kosky auf das kulturelle Berlin der letzten zehn Jahre ausgeübt hat. Noch bevor die große, 23-nummrige Abschieds-Revue losgeht, tritt Kulturstaatsministerin Roth vor der Vorhang und liefert eine Laudatio auf Kosky, die einem manierlichen Warm-Up einer Late-Night-Show in keinerlei Hinsicht nachsteht. Doch das Publikum ist auch ohne staatsministerliche Erheitung in Wallung, denn die Spannung darauf, was der geniale Kosky an diesem Abend auf die Bühne der ehrwürgen Komischen Oper zaubern wird, ist so groß wie nie. Dann lüftet sich der schwere rote Brokatvorhang der Komischen Oper und die rasanteste und gewitzteste Bühnenveranstaltung der gesamten Spielzeit wird vom Stapel gelassen.

Mischung aus Anrüchigkeit, Ernsthaftigkeit, Ironie und Humor

Kosky orientiert sich dabei an der US-amerikanischen Unterhaltungskultur der 1950er und -60er Jahre, die besonders in einer Ansammlung von Ferienhotels in den Catskill Mountains nördlich von New York ihren Niederschlag fand. Die einzelnen Nummern werden mit Stück für Stück absurder werdenden Ansagen begonnen, die nicht oft genug betonen können, dass etwas ,,for the the first time ever‘‘ und ,,exclusively on this stage‘‘ passiert. Egal ob, ,,Yoselle Rosenblatt and his Flat Foozy Boys’’ oder ,,Ruben Zellmann and the Choir of Temple Beth Ammanuel’’ – natürlich stecken hinter diesen Namen allesamt Künstler*innen, die seit vielen Jahren treue Schaffensgenoss*innen Koskys sind und von denen die Geschwister Pfister, Katharine Mehrling und Dagmar Manzel nur einige Namen sind.

Ein Komplize von Kosky ist auch der Choreograf Otto Pichler, der es schafft, eine Mischung aus Anrüchigkeit, Ernsthaftigkeit, Ironie und Humor auf die Bühne zu zaubern. Da gibt es Elvis-Presley-Doubles, es wird Swing gespielt, Rumba, Calypso. Da kitscht es, die große Romantik wird aufgefahren. Kaum hat der oder die Zuschauende sich an eine Stimmung gewöhnt, hat sich ein eine Nummer verliebt, fällt der Vorhang schon wieder und die nächste Nummer sorgt für Lachen. Dabei schreckt Kosky vor nichts zurück. Nackte Hinterteile wackeln, behaarte Männer im Tüll-Fummel tanzen känguruartig über die Bühne und am Ende erzählt ein Cowboy mit breitem Berliner Dialekt von einem Zauberkünstler aus dem Wilden Westen, der mit seinem Geschlechtsteil Kokosnüsse zertrümmert. Das Publikum brüllt und alles hat etwas von Jim Hensons Muppet Show, mit der Ausnahme, das an diesem Abend weder ein Frosch moderiert, noch ein Bär Witze erzählt – allein, Kosky wäre auch das zuzutrauen gewesen.

Am Ende springen alle von ihren Plätzen auf

“Kultur muss Spaß machen.” Foto: Monika Rittershaus

,,Albern!‘‘, rufen die einen und setzen an zu erinnern, dass Kosky die Tradition der Barockoper an der Komischen Oper sträflich vernachlässigt habe. ,,Zu unpolitisch!‘‘, entgegnen die anderen, die sich Beiträge zu postkolonialen Diskursen von Kosky gewünscht hätten. Aber am Ende, da springt auch der und die letzte Kritiker*in von seinem und ihrem Platz auf – ja, als der Vorhang fällt hält es kaum eine*n auf dem Sitz. Die nicht enden wollenden Applaus-Salven aus dem Publikum finden ihr Ende erst als der große Meister selbst auf die Bühne tritt, um Ruhe bittet und dem Abend dann mit einer emotionalen Rede die Krone aufsetzt. Mit der Wiederaufnahme alter jiddischer Operettenstücke aus den 1920er Jahren habe er zeigen wollen, dass der Nationalsozialismus nicht gesiegt habe, dass Kunst stärker sei als die Vernichtung. Die Kraft der Kunst, zu unterhalten, habe ihm immer am Herzen gelegen und er wünsche sich, dass die Deutschen sich nicht immer allzu ernst nehmen sollten: ,,Kultur darf, ja muss Spaß machen!‘‘

Kosky ist berührt, mit glasigen Augen und mit einem Enthusiasmus in der Stimme, der alle Zuhörenden entflammt, betont er immer wieder, wie wertvoll ihm die Zeit an der Komischen Oper war und dass sein Schaffen immer auch eine Gemeinschaftsarbeit war. Besonders hervor hebt er seinen Freund und Dirigenten Adam Benzwi, unter dessen Ägide auch an diesem Abend das rasende Orchester der Komischen Oper stand. Benzwi, von Kosky als der ,,letzte wahre Gentleman unter den Dirigenten Europas‘‘ beschrieben, ist sichtlich gerührt und weint ehrliche Tränen. Und er ist nicht der Einzige.

Ja, Barrie Kosky – dieser Name wird in die Annalen der Berliner Kulturlandschaft eingehen. Unvergessen wird sein Witz bleiben, seine Wirkmacht, die die Komische Oper zu dem Mekka der inszenatorischen Farbenpracht und der Opulenz gemacht hat. Unvergessen wird das Geschenk bleiben, dass er den Berliner*innen gemacht hat, in dem er der jiddischen Operette und dem jiddischen Jazz auf der Bühne der Komischen Oper zur Renaissance verholfen hat. Eines Tages wird man sagen: ,,Ich habe damals noch Barrie Kosky an der Komischen Oper erlebt.‘‘ und es die Menge wird staunend aufraunen, weil die Kosky-Ära noch in vielen Jahrzehnten aus der Vergangenheit in die Gegenwart strahlen wird.

Foto: Monika Rittershaus

Am Ende bleibt ein Wermutstropfen: Kosky wird als Gast immer wieder an die Komische Oper zurückkehren, das ist schon ausgemacht. Berlin braucht ihn, das kulturelle Europa braucht ihn. Beim Hinausflanieren aus dem Opernhaus und dem Eintauchen in die Sommernacht bleibt der Geschmack von Erdbeer-Vollmilch-Pralinés auf den Lippen. Die Wenigsten wissen, dass es Intendant Kosky war, der die Abschiedsschokolade einführte.


Die ,,Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue’’ findet noch am 21., 23., 26. und 29. Juni sowie am 02., 06. Und 10. Juli 2022 an der Komischen Oper Berlin statt. Karten sind noch immer zu haben.

Foto: Monika Rittershaus