Unter der Regie von Hakan Savas Mican hat die Neuköllner Oper das sympathische Stück ,,Berlin Karl-Marx-Platz” zur Aufführung gebracht. Hierbei handelt es sich nicht nur um ein Liebeslied an das Berlin der Nachwendezeit, sondern es werden auch tiefergehende Konflikte zwischen Ost und West besprochen.

Schon in der letzten Kolumne hat der glückliche Umstand der Existenz dreier Opernhäuser in Berlin Erwähnung gefunden. Mit einem gewissen Augenzwinkern bezeichnet sich die Neuköllner Oper, die im Gebäude des Passage-Kinos an der Karl-Marx-Straße residiert, gerne als ,,vierte Berliner Oper‘‘.

Dieses Haus hat nun nicht nur ein breites Programm für die post-Corona-Zeit aufgestellt, sondern sich auch einen neuen einheitlichen Werbeauftritt verpasst: schon Wochen vor der Premiere am 9. Oktober waren in ganz Berlin Plakate mit einer blondhaarigen Frau in Lederjacke zu sehen, deren Seitenprofil von einem roten Oval sowie großen roten Lettern umkreist und übertitelt war. Als dann auch noch damit geworben wurde, es handele sich bei dem Stück um ein ,,Liebeslied‘‘, konnte der geneigte Zuschauer nicht anders als sich gen Neukölln zu verfügen, um sich von der Qualität des Mican’schen Werkes (hier führt der Autor selbst Regie!) als Hommage an die Hauptstadt zu überzeugen. So ist der Saal der Neuköllner Oper, zu dem man durch ein großzügiges Treppenhaus aufsteigen muss und der eher an die Räumlichkeiten einer Tanzschule für höhere Töchter erinnert, bis zum letzten Platz gefüllt und an der Abendkasse muss die bebrillte Kassiererin freundlich darauf hinweisen, dass für den Abend leider keine Billetts mehr zu haben seien.

Schon fast Romeo-und-Julia-Charakter

Die Geschichte des Theaterstücks, das auf der gleichnamigen Romanvorlage von Hakan Savas Mican beruht, hat schon fast Romeo-und-Julia-Charakter. Wo Marcel Reich-Ranicki einst behauptete ,,In der Weltliteratur geht es entweder um Liebe oder um den Tod – der Rest ist Mumpitz.‘‘ lässt sich das Stück des Abends in erstere Kategorie einordnen. Liebe also. Dabei ist die Geschichte schnell erzählt. Berlin, kurz nach dem Mauerfall und zwei Jugendliche verlieben sich ineinander.

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Lisa, die bei ihrer Großmutter in Marzahn ohne ihre Eltern aufwächst und der Familientradition folgend Sängerin werden soll, trifft auf den Neuköllner Cem, der als Rezitator von Koran-Suren in der Moschee wirkt und von der Mutter in ein Medizinstudium gedrängt wird. Lisa wird schwanger, das Kind wächst entlang der Konfliktlinien auf, die sich aus dieser ungleichen Verbindung ergeben und am Ende trennt sich das ungleiche Paar. Dazwischen die üblichen Problemstellungen von Multikulturalität, Selbstverwirklichungswunsch, enttäuschten Hoffnungen und falschen Vorstellungen vom Gegenüber. Was einfach klingt, greift konkrete Fragen der Nachwendezeit auf: wie passen sich Menschen an ein völlig neues System an? Was macht der Kapitalismus mit der traditionellen Familie? Wie entkommt man traditionsgeladenen Familienverhältnissen? Und, kann man etwas aufrecht erhalten, was nicht zu halten ist?

Graues Gras und grauer Spaß

Es sind die beiden Hauptdarsteller des Abends Alida Stricker und Hasan Hüseyin Taşgın, die Antworten auf jene Fragen liefern. Sie legen ihre Rollen intelligent an und spielen völlig unprätentiös. Schön anzusehen ist nicht nur die Interaktion mit der Band, die für die Musikeinlagen verantwortlich zeichnet, sondern auch die Energie von Stricker und Taşgın, mit der sie die ganze Bühne ausfüllen und das anwesende Publikum immer wieder mit- und zu Zwischenapplaus hinreißen. Diese sind immer dann ganz besonders berechtigt, wo die Gesangseinlagen mit größter Treffsicherheit vorgebracht werden. Hier kommt die Schönheit und der Witz der Texte von Mican ganz deutlich zu Geltung und man fühlt sich mitgenommen auf eine Zeit, in der über Ostberlin gesungen wird: ,,Graues Gras und grauer Spaß, grauer Fraß im grauen Heim.‘‘.

Es braucht keine großen Akademien um ein guter Schauspieler zu sein

Am Beispiel von Taşgın merkt man, dass es keine großen Akademien braucht, um ein guter Schauspieler zu sein – er ist der Held des Abends und hat seine Karriere an der Akademie der Autodidakten am Ballhaus Naunynstraße begonnen. Ohne jede Allüren, ganz frei und echt konzipiert er seinen Cem, der gleichzeitig Feingeist und Krawalleur ist und mit der Zeit unter der Knute der erfolgsorientierten Lisa zum unterwürfigen Hausmann verkommt, der am Ende gewissermaßen noch vor die Tür gesetzt wird. Dabei hatte Cem große Träume, kommt visionär daher und formuliert eingangs: ,,Mir ist, als würde die ganze Welt mit dem Zug fahren, aber wir sitzen immer noch hier.‘‘. Taşgın verkörpert die Wandlung seiner Figur überzeugend und es ist zu hoffen, dass er künftig auf noch größeren Bühnen Raum findet seine treffsichere Schauspielkunst zu präsentieren.

Stricker brilliert

Taşgıns Counterpart ist die Jungschauspielerin Alida Stricker, die erst in diesem Jahr die Ernst-Busch-Schauspielschule in Berlin verlassen hat. So ist ihre Tätigkeit für die Neuköllner Oper eine der ersten Auftritte nach dem Studium und hat Signalwirkung für die künftige Karriere. Und diese Karriere könnte sich durchaus einstellen, denn Stricker brilliert mit großer Spielfreude, mitreißender Energie und ihrer frechen, pointierten Schauspielkunst. Gerade die Gesangspartien gelingen ihr von allen Schauspielern des Abends am Besten und man spürt, dass Stricker hier große Erfahrung mitbringt – immerhin hat sie, ausweislich früherer Äußerungen, schon vor Jahren als singende Seeanemone in der Urania auf der Bühne gestanden.

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Stricker spielt vergnüglich ohne bedeutungsarm zu sein und ihr gelingt es die Evolution ihrer Rolle behutsam, aber deutlich abzuzeichnen. Wenn Strickers Lisa dann einerseits mit Anklängen einer originalen Berliner Schnauze ihren Freund Cem fragt ,,[…] starke Frauen – sowas kennt ihr im Weste gar nicht, wa?‘‘ und später ihren unternehmerischen Erfolg durch eine Fahrt mit einem Pedalo über die Bühne in Szene setzt, bei der sie Papiergeld in die Luft wirft und gleichzeitig singt, hat sie das Publikum längst in der Tasche und auf ihrer Seite.

Es ist ein Spiel mit Gegensätzen und Ambivalenzen

Doch auch die Ostberliner Großmutter Gaby, die von Rita Feldmeier gespielt wird und die Neuköllner Mutter von Cem Esma, die Berivan Mara Kaya verkörpert, tragen mit ihrem Können zum Gelingen des Stückes bei. Gerade in der zweiten Hälfte des Stückes wird hier aus Gegenspielerinnen ein ungleiches Paar, das sich um das Schicksal ihrer Kinder bzw. Enkelkinder sorgt. Wo Feldmeier die Großmutter, die nur an die Gesangskarriere ihrer Enkeltochter denkt, in ihrer Verbissenheit überzeugend präsentiert, kommt Kayas Konzeption der Mutter Esma ambivalent daher: einerseits die Einhaltung der Tradition fordern und sich selbst für den Sohn aufopfernd, andererseits warm, verständnisvoll und liebend. Es ist ein Spiel mit Gegensätzen, mit Ambivalenzen und mit einer Menge Witz, das hier betrieben wird und wenngleich Feldmeier und Kaya eher Nebenfiguren dieses Abends sind, tragen sie ganz Maßgeblich zum Erfolg des Abends bei.

Ein ganz spezieller Charme

Es ist also ein ganz spezieller Charme, mit dem die Schauspieler das Publikum für sich gewinnen. Leider – und das gehört auch zur Wahrheit – handelt es sich hier auch immer wieder um den Charme eines Wohnzimmertheaters und insbesondere Stricker und Taşgın wirken in ihren schwachen Momenten mehr wie Darsteller eines Schultheaters als wie Burgschauspieler. Das sei ihnen aber verziehen, denn alles in allem wird hier eine sehr sympathische Inszenierung mit fähigen Darstellern vorgebracht. Es ist zwischen all‘ den selbstreferenziellen Meta-Inszenierungen der Hauptstadt eine angenehme Abwechslung und das Ansehen bereitet schlichtweg Freude, ohne, dass hierbei die Vermittlung eines Problemfeldes und das Ansprechen von konkreten Fragen als Aufgabe des Theaters ins Hintertreffen geriete. Eine Empfehlung zum Besuch der Neuköllner Oper im Allgemeinen und dieser Inszenierung im Besonderen sei hiermit also ausgesprochen.

 

Das Stück ,,Berlin Karl-Marx-Platz‘‘ ist in der Neuköllner Oper an der Karl-Marx-Str. 131-133, 12043 Berlin ist noch am 29.10., 31.10., 03.11., 04.11., 05.11., 11.11., 12.11., 13.11., 14.11.2021, jeweils um 20:00 Uhr zu sehen. Tickets sind an der Abendkasse sowie im Vorverkauf unter https://neukoellner-oper-webshop.tkt-datacenter.net/de/tickets/ zu haben.