Wer in diesen Tagen am Kulturforum vorbeikommt, wird Zeuge langer Menschenschlangen rund um die Neue Nationalgalerie, die am 22.08.2021 wiedereröffnet wurde. Hier zeigt man nun ganz besonders die ,,Kunst der Gesellschaft 1900-1945‘‘. Doch was treibt die Menschen in dieses beeindruckende Gebäude und sind die präsentierten Werke sehenswert? Diese Fragen soll die dieswöchige Kulturkolumne beantworten.
Schon von außen besticht die Neue Nationalgalerie, die vom großen Mies van der Rohe erbaut und im Jahre 1968 eröffnet wurde, auf beeindruckende Weise und ist trotz ihrer Größe auf ganz eigentümliche Weise imposant und elegant zugleich. Betritt man die riesig scheinende Halle der Nationalgalerie meint man, das Gebäude sei ganz sachte, etwa mit einem Hubschrauber auf dem Natursteinplateau abgesetzt worden. Dabei sieht man durch die raumhohen Glasfenster auf die umliegenden Gebäude und genießt die Luftigkeit der Ausstellungshalle. Ins Auge fällt auch das Mobiliar, das das Herz eines jeden Bauhaus-Liebhabers höher schlagen lässt: dem Vorbild der repräsentativer Lobbys folgend, wie man sie aus den amerikanischen Hochhäusern Mies van der Rohes kennt, stehen dort die Barcelona-Sessel, die van der Rohe einst zusammen mit Lilly Reich entworfen hat.
Schon jetzt wird klar, dass das Gebäude an sich ein Kunstwerk ist und es verschlägt einem den Atem, noch bevor man ein einziges Kunstwerk gesehen hat. Das Gebäude als Kunstwerk war aber auch immer wieder ein Problem: die riesige Wandelhalle war stets schwer zu bespielen – der Konflikt zwischen passendem Kunstwerk und zu vermeidender Einengung der Raumwirkung fast unmöglich zu lösen. Wenngleich immer wieder geraunt wird, man solle doch im überirdischen Teil überhaupt nichts ausstellen und das Werk wirken lassen, ist die Entscheidung hier die großen Metallskulpturen von Alexander Calder auszustellen folgerichtig. Sie wirken filigran, überlegen und dabei keineswegs protzig. Treffend ist die Auswahl der Calder’schen Skulpturen für die Wiedereröffnungsausstellung insofern, als dass Mies van der Rohe höchstselbst – in seinen Entwurfsskizzen für die Neue Nationalgalerie – jene Skulpturen für die Wandelhalle vorgesehen hatte.
Es ist eben alles stimmig
Schreitet man nun die Treppe hinab und weiter durch die ersten Ausstellungsräume findet man bald die neue Garderobe vor sich, die die einzig sichtbare bauliche Veränderung darstellt. Gerade Freunde des Brutalismus dürften hier auf ihre Kosten kommen, denn genauso wie beim Museumsshop, der auf der anderen Seite des Gebäudes im parallel gestalteten Raum seinen Platz findet, hat Architekt David Chipperfield hier ganz besonderen Geschmack bewiesen: entgegen der Herangehensweise van der Rohes, der in öffentlichen Gebäudebereichen nie mit Sichtbetonflächen gearbeitet hatte, beeindruckt die Rohbaudecke in Kassettenform sowie die Komposition aus grauem Farbton von Decken, Wänden und Fußboden zusammen mit dem warmen Holz der Tresen sowie der Wandverkleidung mit einer ganz eigenen und besonderen Ästhetik – es ist eben alles stimmig.
Viele neue Erlebnisse, neue Gedanken und neue Eindrücke
Das Herz der Neuen Nationalgalerie waren und sind die Ausstellungsräume im Keller. Hier ist nicht nur der frisch restaurierte Bounclé-Teppichboden im Pfeffer-und-Salz-Muster ein Hingucker, sondern auch die Sammlung der Neuen Nationalgalerie kommt zur vollen Entfaltung. Nach Jahren der Lagerung hatte man schon fast vergessen, dass das Berliner Sammlungsprogramm auf internationalem Niveau mitspielt und hier fast alles zu sehen ist, was man sich im Zusammenhang mit der Kunst des 20. Jahrhunderts wünscht – ja, man kann sich kaum retten vor neuen Erlebnissen, neuen Gedanken und neuen Eindrücken, die man hier mit diesen Werken erlebt, die teilweise bisher völlig unbekannt waren. Die Lehmbruck-Plastiken, die schon Joseph Beuys einst tief berührten, das Bildnis des Graf Kessler von Edvard Munch oder die Werke eines George Grosz, von dem nun die berühmte Collage ,,Stützen der Gesellschaft‘‘ gezeigt wird. Kirche, Kapital und Militär werden hier auf so bösartige und so treffliche weise karikiert, dass man einerseits laut auflachen muss, im nächsten Moment betroffen zurückbleibt, weil wir heute wissen wie die Geschichte ihren Lauf nahm.
Beeindruckend sind auch die Werke von Otto Dix, die ebenfalls zu sehen sind. Hier überzeugt besonders das Werk ,,Die Skatspieler‘‘, das jedoch noch zurücktreten muss vor der Eindrücklichkeit des ,,Redners‘‘ von Conrad Felixmüller. Hier wird ein Agitator und Orator mit hochrotem Kopf gezeigt, der die Massen aufwiegelt – alles in einer Zeit, als nicht TikTok sondern die Volkstribunen dieser Zeit große Massen an Arbeitern bewegten. Der streng nach oben gereckte Zeigefinger, die grüne Haut und die aufgequollenen Augen zeigen Wut, Verzweiflung und Wahn.
Berlin meldet sich zurück!
Stars der Ausstellung sind insbesondere zwei Gemälde, die immer wieder Menschentrauben um sich scharen: die Sonja von Christian Schad und der Potsdamer Platz von Ernst Ludwig Kirchner. Das eine ein Damenportrait, das das weibliche Selbstbewusstsein der 20er Jahre auf nüchterne und eindrückliche Weise transportiert, das andere ein Meisterwerk des Expressionismus, das mit seinem giftgrün ein wirkungsvolles, ja mitreißendes Bild eines Berlins vergangener Tage zeichnet. Vor letzterem steht man wie gebannt, fühlt sich eigentümlich berührt und kann den Blick kaum abwenden von dieser Mutter aller Straßenszenen.
Und doch: am Ende fehlt in diesem reichen Fundus an künstlerischen Leckerbissen leider Emil Nolde, der seit der Enthüllungs-Ausstellung des Hamburger Bahnhofs von 2019 als ,,doch-nicht-so-unschuldig-im-NS-Regime‘‘ bei den Kuratoren der Hauptstadt nicht mehr so angesehen ist wie einst. Auch Werke von Kandinsky sind zu schmal vertreten und man hat das Gefühl, dass die Künstler der Bauhaus-Zeit chronisch unterrepräsentiert sind, was sehr schade ist. Ansonsten aber, wird hier mit Pfunden gewuchert, die sich allesamt sehen lassen können und die den Betrachter beeindruckt zurück lassen. Berlin meldet sich zurück!
Doch auch, wenn die präsentierten Werke eindrucksvoll daherkommen, immer wieder stiehlt ihnen die Baukunst van der Rohes die Show: entlang des Rundganges erblickt man nach einigen großen Schritten schon bald den Garten der Neuen Nationalgalerie. Er liegt wie abgeschirmt von hohen Mauern umgeben und wieder ein Schmuckstück für sich. Man fühlt sich an den, ebenfalls von van der Rohe entworfenen deutschen Pavillon für die Weltausstellung in Barcelona aus dem Jahre 1929 erinnert und staunt über die Detailversessenheit, die Mies van der Rohe bei der Einrichtung des Gartens an den Tag gelegt hat, als er im Tiergarten eigens hierfür passende Bäume aussuchte.
Im ganzen Hause fällt die gelungene Komposition aus Stein, Glas und Holz ins Auge. In der Ausstellungshalle setzen die raumhohen Wände aus dunkelgrünem Tinosmarmor einen spektakulären Akzent, der Bodenbelag aus Granit wird von den orange-braunen Oberflächen des Brauneichefunier ergänzt. Es ist alles in allem so stimmig, dass man eigentlich überhaupt niemanden in die heiligen Hallen einlassen möchte, weil man sich so sehr vor dem Moment fürchtet, in dem der Teppichboden von den ersten Schuhen verdreckt, die weiß verputzten Wände angemackt und die einwandfreie Raumkomposition von Aufstellern, Flatterbändern und Menschen überhaupt zerstört wird. Wo Mies van der Rohe davon spricht, Architektur sei wie eine Sprache, bei dessen guter Beherrschung man Dichter sein könnte, will man dieses Gedicht der Architektur nicht deklamiert wissen, in der Angst, es könnte falsch ausgesprochen werden.
Vorfreude auf zukünftige Ausstellungen
Natürlich ist all das nicht haltbar. Ganz im Gegenteil: die Neue Nationalgalerie muss neu entdeckt werden von den Berlinern, die sechs Jahre auf sie verzichten mussten. Zusammen mit dem Museum der Kunst des 20. Jahrhunderts soll sie das unvollendete Kulturforum neu beleben und man blickt schon jetzt voller Vorfreude auf die Ausstellungen künftiger Zeit, denen dieses Gebäude den optimalen Rahmen bietet. Nun heißt es diesen Raum zu füllen, mit Ideen, mit Leben und mit wohl ausgewählter Kunst.
Es ist also, egal wie man es dreht und wendet, ein eindrücklicher Bau, dessen großen Wert die Berliner wieder neu entdecken werden und der uns in seiner Schlichtheit und Unaufdringlichkeit an eine Zeit erinnert, in der Bauen noch Baukunst und Architektur noch geleitet von einer ganz eigenen Philosophie und Vision war. Wie sehr wünscht man sich das angesichts der Investorenarchitektur dieser Tage zurück. Zählt man nun noch die vielen Momente des tiefen Eindrucks hinzu, die man in diesen heiligen Hallen der Kunst erlebt, kann man ohne weiteres verstehen, warum in diesen Wochen und Monaten ganz Berlin gen Kulturforum wallt. Ein jeder sollte sich dieser Prozession zum Tempel der Kunst anschließen.
Die Ausstellung ,,Kunst der Gesellschaft 1900-1945‘‘ läuft noch bis zum 02.07.2023 – es bleibt also noch hinreichend Zeit sich beeindrucken zu lassen.
Wer ein Besuch plant sollte dies im Voraus tun, die Zeitfenster sind schon jetzt nahezu ausgebucht. Informationen hierzu sind einzusehen unter: https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/die-kunst-der-gesellschaft/
Für Überzeugungstäter wird empfohlen in eine Jahreskarte für die Neue Nationalgalerie zu investieren (kostet 25 €), die schon ab dem fünften Besuch ,,rausgeholt‘‘ ist. Wer stilvoll Kaffee trinken möchte ist gut beraten im Museumscafé im Untergeschoss einzukehren, das sehr schick im maurisch-orientalischen Stil eingerichtet ist.