Lang genug hat das Land die kulturelle Zwangspause erdulden müssen – umso besser, dass sich das Kulturleben in Berlin auch im Sommer diesen Jahres keine Atempause gönnt. Für die UnAufgefordert-Kulturkolumne hat unser Autor zwei Ausstellungen besucht, die scheinbar völlig unterschiedlich doch ganz ähnlichen Ideen folgen. 

In dieser Woche erscheint der erste Teil – die Besprechung der Ausstellung ,,Diversity United‘‘ im ehemaligen Flughafen Tempelhof.

Zuerst geht es an einen bekannten Ort – der ehemalige Flughafen Tempelhof dient auch für die jährlich stattfindende Berlin Art Fair als treue Heimstatt. Ganze 8.000 m2 sind hier zur temporären Kunsthalle geworden, in der nun die Kunstausstellung ,,Diversity United‘‘ vom 09.06.-19.09.2021 zeitgenössische Kunst aus Europa präsentiert. 

Ziel hierbei ist der Dialog sowie die Aufrichtung eines künstlerischen Diskurses zwischen den insgesamt 90 Künstlern aus 34 Ländern – alles als Antwort auf die zunehmende politische Sprachlosigkeit in Zeiten der globalen Krise. Dabei sind nicht nur die Künstler aus aller Herren Länder sondern auch die Kuratoren, die die Ausstellung erarbeitet haben, sind Menschen internationaler Herkunft.

Soweit zum inhaltlichen Rahmen – doch können die Werke die hohen Erwartungen erfüllen, die der geneigte Ausstellungsbesucher an eine solch hochtrabende Zielsetzung stellt? Handelt es sich um eine wahrhaftige Vielfalt oder ist ,,Diversity United‘‘ nur ein Werbegag in Zeiten, in denen mit politischen Symbolen Werbung gemacht wird? 

,,Das Wundersame an Europa ist, dass es existiert und der Mythos der Hoffnung mit ihm.‘‘

Konstruiert ist die Ausstellung als Werk in neun Aufzügen, wobei neun paradoxe Wortkombinationen den Rahmen für fünfundachtzig Kunstwerke setzen. Schon der Eingang ist ein Kunstwerk in sich und erscheint als Korridor in gelbem Licht. Künstler Olafur Eliasson gelingt hier der Versuch einer Neutralisierung von Mensch und Umwelt und man fühlt sich gleich aufgefordert genau hinzusehen. Dann der erste Abschnitt unter dem Titel ,,Demokratie & Vision‘‘, der ganz trefflich mit einem Zitat von Irina Korina eingeleitet wird: ,,Das Wundersame an Europa ist, dass es existiert und der Mythos der Hoffnung mit ihm.‘‘ Hier bleiben besonders die Werke von Jan Svenungsson und Andreas Angelidakis in Erinnerung. Svenungsson etwa hat zwanzig Europakarten aufgehängt und einen Verlauf bis hin in die surrealistische Verfremdung der Landesgrenzen dargestellt  – so wird ganz konkret die Frage nach der Relativität von Territorialgrenzen gestellt.

Ganz spielerisch kommt das Werk von Angelidakis daher, der das Kind in jedem Menschen anspricht und große Bauelemente aus leichtem Schaumstoff in pinker Marmor-Optik bereitstellt, auf dass sie vom Publikum zu neuen Formen zusammengestellt werden. Hierbei ist besonders der interaktiv-partizipative Ansatz äußerst lobenswert. Höhepunkt dieses Abschnitts und Filetstück der gesamten Ausstellung ist das Werk ,,Memorial‘‘ von Fernando Sanchez Castillo, der dem Hitlergruß-Verweigerer August Landmesser sein persönliches Denkmal gesetzt hat, indem er eine Mini-Skulptur Landmessers 5000-fach anfertigen ließ und dazu auffordert auf einem Klebezettel zu notieren, was Zivilcourage heute bedeutet. Danach kann eine der Mini-Skulpturen mitgenommen werden und dient auf dem heimatlichen Schreibtisch als Aufforderung zu Zivilcourage im Alltag. Die Wand, an der die Klebezettel angeheftet werden, ist schon voll bis auf den letzten Zentimeter und eine der Kuratorinnen berichtet schmunzelnd, dass auch der Bundespräsident sich hier verewigt habe.

Auseinanderklaffen von Wirklichkeit und Realität europäischer Willkommenskultur wird angeprangert

© Stiftung für Kunst und Kultur, Bonn. Foto: Silke Briel / © Šejla Kamerić

Unter dem Titel ,,Krise & Widerstand‘‘ präsentiert etwa Mona Hatoum ein Nagelbrett, welches in Anlehnung an die obligatorischen Fußabtretermatte, die vor keiner deutschen Kleinbürgerwohnung fehlen darf, den Schriftzug ,,Welcome‘‘ erkennen lässt. Alltägliche Dinge als Medium des Traumas und das Auseinanderklaffen von Wirklichkeit und Realität europäischer Willkommenskultur werden hier angeprangert. Einen ähnlichen Gedanken präsentiert Sejla Kameric mit weiß-leuchtenden Neonbuchstaben, die das Wort ,,Liberty‘‘ formen und deren Oberseite aber gänzlich mit langen Vogelabwehrstacheln gespickt sind. So wird hier die Zerbrechlichkeit der Hoffnung auf Freiheit, ja der Traum von Freiheit selbst treffend illustriert. 

Der dritte Abschnitt heißt hier ,,Erinnerung & Konflikt‘‘ und ist unter anderem Ort der raumfüllendenden Installation von Henrike Naumann. Letztere richtet ein 90er-Jahre-Wohnzimmer ein, stattet es mit allerlei pseudo-westlichem Funierramsch aus, dreht alles um 180 Grad und zeichnet so ein einwandfreies Psychogramm der Nachwendezeit in der ehemaligen DDR – inklusive Flauschesofa und Mottoflagge ,,Hüte dich vor Sturm und Wind und vor Ossis, die in Rage sind‘‘ – das ist diese Ästhetik des Hässlichen in feinster Form.

Weiter geht es mit ,,Dialog & Monolog‘‘, wo Antony Gormley große kubistische Körperskulpturen aus Stahl gegossen und Ugo Rondione dergleichen aus groben Stein gehauen präsentiert. Aufsehen erregt hier aber auch ein Konvolut an Werken von Gerhard Richter, die die Bedeutung dieser Ausstellung allein durch ihre Anwesenheit zertifizieren. Dabei sind die typischen Verfremdungen von Richter diesmal nicht durch entsprechende Effekte sondern durch aufgetragene Farbe erwirkt und selbst für eingefleischte Richter-Fans eine Erweckung. 

,,Wo sind wir Täter gewesen? Wo müssten wir um Ablass bitten?‘‘

© Stiftung für Kunst und Kultur, Bonn. Foto: Silke Briel / © Patricia Kaersenhout; Anders Petersen

Unter Macht & Gleichheit kommen uns Patricia Kersenhouts Anzugherren auf allen Vieren entgegengekrochen, die in bester Büßertradition für ihre Taten um Ablass bitten. ,,Wo sind wir Täter gewesen? Wo müssten wir um Ablass bitten?‘‘, fragt man sich unweigerlich.

Wenn es dann an den Abschnitt ,,Erkenntnisse & Perspektiven‘‘ geht, begegnet der geneigte Besucher bekannten Szenen. Mit der kinetische Skulptur ,,Suspended‘‘ rekurriert Anri Sala auf Michelangelos ikonische ,,Erschaffung Adams‘‘ in der Sixtinischen Kapelle, wenn er zwei blaue Plastikhandschuhe sich fast berühren lässt. Wenngleich 2008 geschaffen berührt uns diese Skulptur heute erneut und auf ganz eigentümliche, ja fast unheimliche Weise, nicht zuletzt, weil die Erfahrungen von Getrenntsein, Barrieren und Schutzmaßnahmen verschiedenster Art in unser aller kollektives Gedächtnis eingegangen sind.

© Stiftung für Kunst und Kultur, Bonn. Foto: Silke Briel / © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Als nächstes folgt der Abschnitt ,,Grenzen & Begrenzungen‘‘ in dem wir auf das Flüchtlingskind Almerisa aus Bosnien treffen. Rineke Dijkstra hat ihr Werden und ihren Wandel in sechzehn großformatigen und hochqualitativen Fotografien festgehalten, die zeigen, wie sich aus einem kleinen Mädchen eine junge Frau, eine Mutter, und eine Dame gestandenen Alters entwickelt. Es ist die Frage nach Veränderung, nach Identität und schließlich – mit der Geburt von Almerisas Kind –  auch nach einer neuen Generation Europas.

Der vorletzte Abschnitt trägt den Titel ,,Landschaften & Gedankenwelten‘‘, zu dem die Installation des Eingangsbereichs aber auch das Werk ,,What if it all just stopped?‘‘ von Mariele Neudecker zählt. In einem Kubus wird ein mystischer, nebelumhüllter Wald dargestellt – der Wald also als Ort europäischer Mysterienbildung und Heimstatt der europäischen Urvölker. 

Mit ,,Aktion & Abstraktion‘‘ endet diese denkwürdige Ausstellung. Hier kommen etwa die Textilarbeiten von Sheila Hicks zur Präsentation. Hicks, eine Josef-Albers-Schülerin, erinnert mit großen aus Stoff gearbeiteten und gebundenen kubistischen Formen an die Lehren des Bauhauses und fordert uns auf die Trennung von Kunst und Kunsthandwerk zu überdenken.

Die Kunstwerke treffen den Ton unserer Zeit

Tritt man nun aus dem imposanten Gebäude des Flughafens Tempelhof hinaus und schickt sich an ein gerechtes Urteil über die Ausstellung zu fällen, muss man sich bemühen nicht ins Schwärmen zu geraten: die allermeisten Kunstwerke treffen den Ton unserer Zeit, suchen auf intelligente Art und Weise den Diskurs, regen zur Diskussion an oder gefallen schlichtweg, oft ob ihrer besonderen Intelligenz. Dabei fällt insbesondere die Tatsache positiv ins Gewicht, dass unzählige Künstler ihre Werke eigens für die Ausstellung angefertigt haben und sich so der Charakter weg von einer Kunstmesse hin zu einem wirklichen Zusammentreffen und zu einem Dialog entwickeln kann.

Einzig die Aufteilung in die Abschnitte gelingt hier und da eher im Ausstellungkatalog als in der Ausstellung selber und man überlegt, wie die Ausstellungsbereiche intelligenter hätten angeordnet werden können. Es ist aber darüber hinaus ein wirklich diverses Unterfangen, das hier gelungen ist und einmal mehr deutlich macht, dass die Pandemie – so schmerzlich sie uns alle getroffen hat – in vielerlei Hinsicht auch ihre positiven Seiten hatte: neben der großen Lust auf Kunst und Kultur hat sie auch für die Künstler als Inspirationsquelle gedient und man darf gespannt sein, was in den künftigen Monaten noch alles zur Ausstellung kommen wird.

Doch auch die Organisation der Veranstaltung ist zu loben: dahinter steht die Bonner Stiftung Kunst und Kultur von Kunst-Netzwerker Prof. Walter Smerling, der mit seiner Stiftung auch das Museum Küppersmühle in Duisburg realisiert hat und der sich gerne als umtriebiger Geist der Kunst-Szene inszeniert. Hier ein Foto mit Jonathan Meese, da eine neue Ausstellung mit Till Brönner – kein Wunder, dass sogar der Bundespräsident zur Ausstellungseröffnung vorbeigeschaut hat. Doch dabei bleibt es nicht. Betrachtet man die vielen Logos der Unterstützenden staunt man ob des genialen Kooperationsmanagements, wo sogar die Kleidungsmarke New Yorker sowie der Ex-Hertha-Mäzen Lars Windhorst als Sponsor und Sigmar Gabriel als Beiratsmitglied auftritt. Antikapitalistisch kommt diese Ausstellung also nicht daher. Es wäre aber auch naiv das zu fordern – Kunst braucht nun mal Kapital. Womöglich liegt auch in solchen Dingen der Erfolg einer solchen Ausstellung. 

Die Ausstellung Diversity United läuft noch bis zum 19.09.2021. Begleitprogramm und Führungen sind unter https://www.stiftungkunst.de/kultur/diversityunited/diversity-united-tickets-infos einzusehen.