Normalität existiert für die Uiguren im nordchinesischen Xinjiang seit Jahren nicht mehr. Die ethno-religiöse Minderheit erfährt eine beispiellose Kampagne der kulturellen Assimilierung. Und immer mehr Menschen verschwinden in sogenannten „Umerziehungslagern“. Mehr dazu auch in diesem Interview mit einem Exil-Uiguren.

Seit Jahren berichten Augenzeugen und vereinzelte Medien über zunehmende Repressalien gegen die Uiguren. Berichten zufolge werden in der Region Überwachungssystemen und Kameras an Wohnhäusern von Uiguren installiert. Regierungsbeamte ziehen zeitweise zu Familien der Zivilbevölkerung – leben, essen, schlafen bei ihnen. Die Uiguren werden unter Generalverdacht gestellt und von der chinesischen Führung als Extremisten dargestellt.

Die Provinz Xinjiang ist der Siedlungsschwerpunkt der Uiguren und grenzt im Nordwesten Chinas an Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan. Statt Mandarin sprechen die Uiguren eine Turksprache und fordern Autonomie für Ostturkestan, wie sie die chinesische Provinz Xinjiang bezeichnen.

Die Kommunistische Partei Chinas (KP) versucht diesen Prozess mit allen Mitteln der Assimilation zu verhindern. Seit 1949 erhöhte die Volksrepublik China den Prozentsatz der Han-Chinesen in Xinjiang mit einer aggressiven Siedlungspolitik von 5 Prozent auf 40 Prozent und formte die Region bis ins 21. Jahrhundert zu einer streng überwachten Siedlerkolonie aus, die unter der Vorherrschaft der von den Han-Chinesen dominierten Bürokratie steht.

2019 zeigte die Veröffentlichung der China Cables, als geheim eingestufte Dokumente der Chinesischen Kommunistischen Partei, wie in Xinjiang die massenhafte Internierung der Uiguren organisiert wird. Sogenannten Berufsbildungsstätten wurden hier als Orte der systematischen Indoktrinierung entlarvt. Den muslimischen Uiguren in den Lagern sei es verboten, ihre Sprache zu sprechen, ihre Religion auszuleben und somit ihre Kultur fortleben zu lassen. Sie stehen unter permanenter Überwachung – sei es beim Schulunterricht, beim Toilettengang oder beim Schlafen. Wer sich dieser „Umerziehung“ widersetzt, wird bestraft, gegebenenfalls mit Folter.

Religionsausübung wird strafbar

„Die systematische Internierung einer ganzen ethno-religiösen Minderheit ist vom Ausmaß her vermutlich die größte seit dem Holocaust“, fasst der China-Experte Adrian Zenz, der an der Veröffentlichung der China Cables beteiligt war, zusammen. Gemeinsam mit der Nachrichtenagentur AP enthüllt Zenz zudem, dass die KP Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen an den Uiguren vornehmen lässt. Maßnahmen, die in der Völkermordkonvention ausdrücklich als Charakteristika eines Genozids angeführt werden. Von 2015 bis 2018 ist die Geburtenrate in Xinjiang um mehr als 60 Prozent gesunken.

Dennoch hält sich die öffentliche Empörung in Grenzen. Die Sinologin Katja Drinhausen macht dafür unterschiedliche Gründe aus. Zum einen sei die Volksrepublik China schon immer ein großer Verfechter des Prinzips der Nichteinmischung und der absoluten Souveränität über die eigene Bevölkerung gewesen. Andererseits stellt das Land für viele Nationen einen überaus wichtigen geopolitischen Handelspartner dar. Allerdings nennt sie noch eine weitere, zynischere Ursache. Sie bezeichnet das Vorgehen der chinesischen Führung als minimalinvasiv. Niemand wird öffentlich hingerichtet oder diffamiert. Im Propaganda-Fernsehen sieht man, prestigeträchtig inszeniert, vor allem glückliche Uiguren, die sich über die Chance freuen, die ihnen die KP eröffnet. Aus diesem Grund appelliert Drinhausen an die Vereinten Nationen den Begriff des „Genozids“ zu überdenken, damit er nicht nur Völkermorde wie beispielsweise aus dem Zweiten Weltkrieg oder in Ruanda und Srebrenica einschließt, sondern auch die moderne, technische und medial unsichtbar gemachte Auslöschung einer Bevölkerungsgruppe mit einbezieht.

Politisches Wegsehen von Nationen, Unternehmen und Medien

China stellt eine wirtschaftliche Weltmacht dar. Multinationale Unternehmen sehen sich also einmal mehr mit der Frage konfrontiert, ob man sich zu Gunsten kapitalistischer Gewinne einem Unrechtsregime beugt oder ob man an seiner moralischen Integrität festhält. Wer in diesem Spannungsverhältnis auf Menschlichkeit setzt, wird enttäuscht. 

Ein Unternehmen, das diesbezüglich in der Kritik steht, ist Disney. Grund dafür ist die 2020 erschiene Realverfilmung des Zeichentrickfilms Mulan. Der Film spielt nicht nur im Nordwesten Chinas, sondern wurde auch dort in Zusammenarbeit mit der kommunistischen Staatsführung gedreht. Im Abspann des Films wird explizit vier verschiedenen offiziellen Propagandabüros der kommunistischen Führung in Xinjiang gedankt. Auch die Hauptdarstellerin der Inszenierung, Liu Yifei, sah sich in den sozialen Foren mit harter Kritik konfrontiert. Sie bekundete via Twitter ihre Sympathie und Unterstützung für die Hongkonger Polizei und sprach sich somit indirekt gegen die vorherrschenden Demokratiebestrebungen aus. Diese Boykottaufrufe ignoriert die chinesische Staatspresse komplett. Stattdessen wird auch hier ein positives Bild gezeichnet – das Land sei stolz auf die Verfilmung und verbucht die Aufnahmen vor Ort als Riesenerfolg.     

Diese Entwicklungen scheinen ein Beleg dafür zu sein, dass China einen immer größeren Einfluss in Hollywood gewinnt. Durch die wachsende Anzahl an Kinos und Besucherzahlen werden die Einnahmen für Hollywoodfilme aus China immer bedeutender. Auch die Finanzierung von Hollywoodprojekten durch chinesische Investoren ist gestiegen. Das zieht unmittelbare Folgen für die künstlerische Projektentwicklung und Themenvielfalt nach sich. Die kritische Behandlung der Zivilgesellschaft, Überwachung oder Aufbegehren gegen Diktaturen sind Problematiken, die von der Staatszensur nicht toleriert werden.

Keine klare Positionierung zu Menschenrechtsverletzungen

Auch deutsche Unternehmen ziehen sich nicht nur aus der Verantwortung, sondern profitieren augenscheinlich von den massiven Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang. Volkswagen baute beispielsweise 2013 in Urumqi ein VW-Werk. Bereits bei der Eröffnung waren deutsche Medien gar nicht erst eingeladen worden, im Gegensatz zu Vertretern der Volkspolizei. Gemeinsam mit dem chinesischen Kooperationspartner schloss der Konzern nämlich ein Abkommen mit der bewaffneten Volkspolizei, die paramilitärische Strukturen aufweisen soll und als treibende Kraft hinter den Internierungen gilt.

Besonders prekär scheint auch der Umstand, dass sich allein in einem Umkreis von 30 Kilometern knapp zwei Dutzend Gefängnisse und Internierungslager befinden. Laut Amnesty International sei es unmöglich, in der Region gewerblich aktiv zu sein und nichts mit Menschenrechtsverletzungen zu tun zu haben. Kritikern zufolge mache sich der Konzern mitschuldig an einem der wohl größten Menschenrechtsverstöße unserer Zeit. Dennoch leugnet der Vorstandsvorsitzende von VW Herbert Diess, von der Existenz besagter Lager zu wissen. Branchenintern heißt es stattdessen, VW sei von der chinesischen Regierung zum Bau eines ökonomisch unrentablen Werks verpflichtet worden und darf im Gegenzug etliche neue Manufakturen an Chinas Ostküste erbauen.

Im März reagierte die EU: Die Außenminister beschlossen erstmals seit mehr als 30 Jahren Sanktionen gegen China wegen Menschenrechtsverletzungen. Sie richten sich gegen Verantwortliche für die Unterdrückung der Uiguren, wie etwa den Direktor des Büros für öffentliche Sicherheit von Xinjiang Chen Mingguo. Er und weitere Vertreter des Parteikomitees des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang dürfen nicht mehr in Mitgliedsstaaten der EU einreisen, ihre Vermögenswerte wurden eingefroren und ihnen darf kein Geld oder wirtschaftliche Ressourcen mehr zur Verfügung gestellt werden.

Bisher ist das niederländische Parlament allerdings das erste und einzige in der EU, welches das Vorgehen der Kommunistischen Partei mittel des Begriffs „Völkermord“ verurteilt hat. Warum positioniert sich auch die deutsche Regierung nicht eindeutiger? Sollte nicht jedem bewusst sein, welche Assoziationen in unserem kulturellen Gedächtnis abgerufen werden, wenn man von einer in Lager verschleppten religiösen Minderheit spricht? Es bleibt zu hoffen, dass weitere politische und ökonomische Konsequenzen folgen werden.


Weitere Infos zum Thema gibt es in diesem Interview mit einem uigurischen Aktivisten und auf https://www.uyghurcongress.org/de/ 

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