In diesem Artikel zum kulturellen Genozid an der ethno-religiösen Minderheit der Uiguren im nordwestchinesischen Xinjiang wurden die gravierenden Ereignisse der letzten Jahre dargestellt. Wichtig ist es auch, die Perspektive der Betroffenen selbst zu hören. Unsere Redakteurinnen trafen sich online zu einem Gespräch mit dem Berliner Büroleiter des „World Uyghur Congress“ und Aktivisten Haiyuer Kuerban über Menschenrechte, studentischen Aktivismus und Heimat.

Haiyuer Kuerban ist 37 Jahre alt und einer von rund 600 im deutschen Exil lebenden Uiguren, einer muslimischen Minderheit in China. In den Augen der chinesischen Regierung macht ihn das zum Volksverräter. Vor 17 Jahren kam Kuerban aus der nordwestchinesischen Provinz Xinjiang nach Deutschland, was damals noch mit einem Auslandssemester möglich war. Seitdem war er nicht mehr zuhause. Informationen aus seiner zunehmend isolierten Heimat und von seiner Familie erreichen ihn nur noch spärlich und sind selten gut. Lächelnd stellt er klar: „Politisch engagiere ich mich mit meinem gebrochenen Deutsch, um diese Menschenrechtsverletzungen an meinem Volk sichtbar zu machen.“

UnAuf: Wie erinnern Sie sich an das öffentliche Leben in Ihrer Heimat und wie fanden Religion und Politik darin statt? Wann und auf welche Weise nahmen Sie zum ersten Mal Repressalien wahr?

Haiyuer Kuerban: Politische Kampagnen wurden in verschiedenen Größenordnungen organisiert. Beispielsweise wurden wir [Schüler*innen verschiedener Schulen] in den Ferien in einem Fußballstadion, das Platz für 10.000 Menschen bietet, versammelt und es wurden dann öffentliche Schauprozesse geführt, bei dem die uigurischen Angeklagten wegen verschiedener Vergehen verurteilt und von da aus direkt zum Erschießungskommando abtransportiert wurden. Als Kind nimmt man die Tragweite dieser Geschehnisse nicht wahr; es wirkt eher wie ein Schauspiel. Das waren meine ersten und einprägsamsten Begegnungen mit der KP, die darauf ausgelegt waren, dass wir die kommunistische Autorität ohne Hinterfragen akzeptieren.

UnAuf: Wie leben die Uiguren ihre Religion, den Islam aus?

Kuerban: Unsere Frauen haben zuhause das Sagen – das war schon immer so gewesen. Unsere Mütter und Frauen haben bei familiären Entscheidungen das letzte Wort. Den Uiguren, die ich kenne, war es auch immer sehr wichtig, dass Mädchen zur Schule gehen und Universitäten besuchen. Die Beschreibungen der Kommunistischen Partei, dass wir Modernität komplett abgelehnt hätten, ihre Vergleiche mit dem Taliban stimmen überhaupt nicht! Ja, wir haben in unserm Leben islamische Werte. Ja, wir wissen für uns, was gut ist, was böse ist. Dem islamischen Glauben nach würden wir niemals andere Menschen schädigen, um uns selbst zu bereichern.

Anmerkung der Redaktion: Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 überarbeitete die chinesische Regierung ihre Narrative und die Uiguren wurden von nun an unter Generalverdacht gestellt und medial als potenzielle Gewaltverbrecher und Extremisten inszeniert. Dieser Vorgang führte bis heute zu immer schärferen Einschnitten, auch in der Sprachlichkeit. So genügt das Verwenden religiös behafteter Formeln, beispielsweise das islamische Pendant zu „Grüß Gott“ oder „Gott sei Dank“ oder lediglich die Erwähnung von „Allah“, um eine polizeiliche Untersuchung einzuleiten.

Haiyuer Kuerban Foto: Privat

UnAuf: Wissen Sie persönlich von Verwandten oder Bekannten, die der Massendeportation, Umerziehung in den Internierungslagern, Zwangsarbeit oder sogar Vergewaltigungen oder Zwangssterilisationen zum Opfer fielen?

Kuerban: Klar, meine Familie ist auch von der Unterdrückung, von den Repressalien betroffen. Aber viel schlimmer betroffen sind die unzähligen Familien, die keine Verwandten im Ausland haben, die für ihre Rechte einstehen. Es gab dann auch diese Spielchen der chinesischen Regierung, indem sie Angehörige von publik gewordenen Aktivisten in den Medien gezeigt haben und sie haben sagen lassen: „Ah ja, die lügen doch. Sowas gibt’s nicht. Uns geht’s hier gut.“ Und davor habe ich eigentlich immer Angst gehabt. An die Öffentlichkeit zu gehen und zu sagen: „Meine Mama ist verschwunden!“ und am nächsten Tag zeigt die chinesische Regierung meine Mama im Fernsehen, dass sie mich eigentlich kritisiert, verurteilt und beschimpft. Das hat die KP tatsächlich schon so gemacht bei lauten Kritikern!

UnAuf: Was bedeutet Heimat für Sie?

Kuerban: Dank der Anziehungskraft der deutschen Gesellschaft – nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern auch der Respekt gegenüber den Menschenrechten und miteinander – hatte ich die Möglichkeit hier noch eine zweite Heimat zu finden. Ich habe mit viel Engagement und Fleiß geschafft, wovon viele Neuankömmlinge träumen – ich habe eine Familie, ein Zuhause, Arbeit, also soziale und finanzielle Sicherheit. Aber gleichzeitig konnte ich meine Heimat nie vergessen. Das Leben in der Ferne, ohne die Erinnerung an die Wurzeln, die eigene Kultur, ist so nicht möglich. In meiner Brust schlagen also zwei Herzen.

UnAuf: Was sind die erklärten Ziele des „World Uyghur Congress“? Wie lässt sich, Ihrer Meinung nach, ein größeres Bewusstsein für die massiven Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren in der deutschen Öffentlichkeit erwirken? Was können wir als Studierende tun, um Ihren Aktivismus auf individueller Ebene zu fördern?

Kuerban: Der WUC ist ein Dachverband aus über 30 Organisationen, die internationale Öffentlichkeitsarbeit leisten, Demokratiebewegungen fördern sowie die massiven Menschenrechtsverletzungen und den kulturellen Genozid an den Uiguren in politischen Debatten thematisieren wollen. Wir finanzieren uns maßgeblich aus Spendengeldern. Als Einzelner kann man allerdings auch aktiv werden und sich für die Uiguren engagieren – auch als Student, wenn man keine großen Geldmittel zur Verfügung hat. Man kann sich zu den Menschenrechtsverletzungen belesen, Petitionen unterschreiben, oder seine Stimme auf Demonstrationen nutzen. Somit wird der öffentliche Druck auf die westlichen Politiker erhöht, endlich zu handeln. Außerdem kann man darauf achten keine Produkte zu kaufen, die von uigurischen Zwangsarbeitern gefertigt wurden und so ökonomischen Druck auf die Firmen ausüben.

UnAuf: Was gibt Ihnen in Ihrem Kampf um Gerechtigkeit Hoffnung?

Kuerban: Rational betrachtet habe ich keine Hoffnung. In einer Zeit, in der die vermutlich schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen seit dem Ende des 2. Weltkrieges passieren, ist die Reaktion der Hüter der Demokratie, der Hüter des Islam so schlampig. Es sind schon so viele Gräueltaten passiert – Kultur, Sprache, Religion ist so gut wie alles ausgelöscht in dieser Region. Meine Mama kann nicht einmal mehr das Wort „Allah“ in den Mund nehmen. Was mir Hoffnung gibt, ist der Glaube an die Religion. Religion gibt Hoffnung. Ich möchte mir sagen, ich habe das Richtige getan. Es gibt ein uigurisches Sprichwort: Tügimes Naxsha Yoq – Es gibt kein Lied, das nicht endet.


Mehr Informationen unter:

https://www.uyghurcongress.org/de/

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