Arjang (32) ist vor einigen Jahren von Teheran nach Deutschland gekommen und tut sich mit dem Studienalltag hier schwer. Die Differenzen zwischen den Lebenserfahrungen scheinen teilweise unüberwindbar zu sein, wie er uns schildert.

UnAuf: Du wohnst in Berlin und bist noch an der HU im Studiengang Philosophie immatrikuliert. Wie bist nach Berlin gekommen und hast du im Iran auch schon studiert?

Arjang: Genau, ich habe im Iran angefangen zu studieren. 2009 gab es allerdings eine politische Bewegung, unter anderem gegen Wahlbetrug. Deswegen habe ich mit vielen anderen immer härter gegen die Regierung demonstriert und wurde dann vom Studium verbannt. Ich durfte offiziell für fünf Jahre nicht mehr studieren, wurde verhaftet und verfolgt. Deshalb bin ich durch das Gebirge in die Türkei geflohen. Dort habe ich irgendwann Kontakt zum deutschen Staat aufgenommen, bin nach anderthalb Jahren hierher gekommen und habe zuerst in Norddeutschland die Sprache komplett neu gelernt. Dann bin ich nach Berlin gezogen und habe ein Philosophiestudium an der HU angefangen. Irgendwann hatte ich aber das Gefühl: „Okay, das ist nichts für mich“. Die Atmosphäre war … ganz anders. Ich habe mich nicht wohl gefühlt. Deswegen habe ich mehr gearbeitet. In einem Hostel mache ich Nachtschichten als Rezeptionist. Bald werde ich aber einen anderen Online-Master beginnen.

UnAuf: Warum hast du dich hier an der Uni nicht so wohl gefühlt?

Arjang: Durch Gespräche – zum Beispiel nach den Protesten zum G20-Gipfel in Hamburg – habe ich den Eindruck bekommen, dass die Leute eine sehr bürgerliche Ansicht von den meisten Dingen haben. Viele sind nur durch Massenmedien ‚informiert‘. Wenn ich zum Beispiel in einem Ethikseminar bin und es wird darüber gesprochen, wie Kollateralschäden bei Bombardierungen moralisch bewertet werden müssen, halte ich das für eine stark durch Medien geformte Diskussion. Es ist eine eurozentrische Sicht auf die Dinge. Für Leute, die von irgendwo anders kommen, ist es keine moralische Diskussion. Es sind Wahrheiten und Ereignisse, die um sie herum passieren. Ich selbst habe niemanden dadurch verloren, weil in meinem Land keine deutschen Bomben flogen, aber auch ich wurde mit deutschen Instrumenten vom Militär und Geheimdiensten im Iran verhaftet. Meine Telefonate wurden, so wie die von vielen anderen, abgehört. Jemand anderes kann eine gemütliche Atmosphäre im Seminar haben, denn diese Diskussionen hören in der Uni irgendwann auf. Das tun sie aber nicht für alle, nicht für mich.

UnAuf: Wie ist denn die Situation im Iran, haben Studierende irgendeine Art von ‚Meinungsführerschaft‘ in der Opposition?

Arjang: Zumindest momentan nicht. Die ökonomische Situation ist so schlimm, dass Leute einfach für Brot auf die Straße gehen.

UnAuf: Mein Eindruck von der Situation ist, es handelt sich auch um gegensätzliche Ansprüche und festgefahrene Konflikte zwischen den Ländern der Region.

Arjang: Genau, und als Resultat gibt es höhere Formen von Rassismus. Im Iran gegen die eigene Bevölkerung – zum Beispiel von Zentrum gegen den Rand, oder gegen Migrant*innen aus Afghanistan oder dem Irak. Oder in der Türkei: dort gibt es Rassismus gegen Afghan*innen, Iraner*innen, Araber*innen. In jedem Staat gibt es diese spezialisierte Form von Rassismus. Gegen Migrant*innen gerichtet oder historisch bedingt, von alten Konflikten ausgehend. Es sind Nachbarn und sie hassen sich. Das hast du in Europa auch, aber hier gibt es jetzt die Europäische Union. Deswegen kommen die „bösen Migranten“ jetzt aus außerhalb von Europa.

UnAuf: Hast du eigene Erfahrungen damit gemacht?

Arjang: Wir sind in einer Großstadt in Mitteleuropa, das ist unvermeidbar. Es ist ein bisschen vereinfacht, aber als Beispiel: Ich habe einen Bart. Irgendwann kommt jemand und starrt mich an oder droht mir. Das passiert in den unerwartetsten Momenten. Gut, ich habe die Erfahrung mit der Regierung im Iran, deswegen bin ich nicht so leicht einzuschüchtern. Es gibt aber Leute, die vor Krieg hierhin geflohen sind und die können das nicht aushalten. Es gibt keine Lösung dagegen. In Deutschland gibt es aber bei Demonstrationen immer einen Beauftragten für Konfliktlösungen.

Arjung möcht anonym bleiben
Foto: Privat

UnAuf: So etwas wie ein Awarenessteam?

Arjang: Ja. Du kannst nichts machen, um einen Idioten zu stoppen, dich zu hassen. Aber es kommt auch zu Konflikten, die intersektional sind. Gut, ich bin zwar Migrant, aber ich bin auch ein Mann. Wenn eine Frau kommt, die zwar weiß ist, aber vielleicht eine schlechtere ökonomische Situation hat, als ich, dann erlebt sie als Frau möglicherweise mehr Druck in der Gesellschaft. Zum Beispiel konnte ich bei der Arbeit einer Frau bei einem Problem nicht helfen und sie fing an, mich rassistisch zu beleidigen und zu verhöhnen. In solchen Situationen denke ich: „Okay, wenn ich jetzt bei ihr so stark reagiere, wie gegen einen Mann, dann bin ich nicht mehr in der richtigen Position.“ Das ist nicht so leicht, wie einfach einem Nazi auf der Straße zu begegnen.

UnAuf: Wie schätzt du die Wichtigkeit der Demonstrationen von 2009 ein? Die sogenannte grüne Bewegung wird als großes Ereignis dargestellt, gegen das die Regierung aber sehr hart vorgegangen ist.

Arjang: Im Vergleich zu anderen Vorgängen der Islamischen Republik war es nicht so schlimm. Ich meine, wir wurden verfolgt, wir wurden verhaftet und vielleicht bis zu 100 wurden getötet, aber die Islamische Republik hat in den 80er-Jahren zwischen 5.000 und 15.000 Menschen umgebracht. Bei uns gab es Demonstrationen, wo bis zu einer Million Leute auf der Straße waren und es hat nichts geändert. Es gab zwar große soziale Bewegungen, man dachte sich ‚total schön‘ und alles, aber es hat auch einfach nichts geändert.

UnAuf: Das muss ziemlich frustrierend sein. Diese Bewegung wurde zwar niedergeschlagen, aber hat es nicht schon etwas in den Köpfen der Leute und auch bei der Regierung verändert?

Arjang: Ich meine nur, dass ein social movement zerschlagen wurde. Aber du hast natürlich Recht, weil die jüngere Generation sich danach getraut hat, linke Organisationen zu bilden, was es seit 20 Jahren nicht mehr gab. Wenn in einer Generation so viele Tausend getötet werden, dann haben die anderen Angst. Es hatte 20 Jahre gedauert bis zur grünen Bewegung, bis auch die Linken gedacht haben „Okay, das war eine bürgerliche Bewegung, jetzt müssen wir uns auch präsentieren und unsere Alternative aufbauen.“. Oder die Frauen, die immer anwesend, aber nicht gleichberechtigt waren. Nach der grünen Bewegung gab es das mehr. Und 2017/2019 gab es dann diese Bewegungen in 80 bis 100 Städten, die also wirklich groß waren. Wenn du Demonstrationen in so vielen Städten hast, dann sind sie auch bunter. Es muss aber voneinander getrennt werden: Die grüne Bewegung war bürgerlich, klein und hatte sichere Ziele. 2019 gab es eher eine Rebellion, einen Aufstand.

UnAuf: Gab es 2019 auch irgendeine Art von Organisation oder klar formulierte Ziele?

Arjang: Nein, nicht wirklich. Es gab nur beispielsweise einen Telegram-Channel, wo Nachrichten und Treffpunkte mitgeteilt wurden. Es gibt eine Stadt im Südwesten Irans, Māhschahr, in der mehrheitlich Araber*innen leben, die wurden einfach blockiert. Während der Demonstrationen wurde das Internet für eine Woche komplett geblockt. Aber in dieser Stadt haben sie alle Wege und Autobahnen blockiert und sie haben einfach getötet. Nach einer Woche – als das Internet wieder ging – sind dann Bilder herausgekommen, die zeigten Panzer vor der Stadt.

UnAuf: Wird gegen ethnische Minderheiten noch mal stärker vorgegangen?

Arjang: Ja, auf jeden Fall. Gegen die Araber*innen, die Kurd*innen oder jetzt in diesem Moment gegen die Belutsch*innen (ein Volksstamm, die Menschen sind hauptsächlich sunnitisch – Anm. d. Red.) in einer Stadt im Südosten des Iran. Sie haben seit einer Woche kein Internet, weil ihre Schmuggler – ‚offizielle‘ Schmuggler, die als einzige Einkommensquelle Benzin schmuggeln – erschossen wurden und es jetzt seit einer Woche Aufstände gibt. Niemand weiß genau, wie viele Hubschrauber da sind, aber die letzten Nachrichten waren, dass so und so viele getötet wurden, auch Kinder, 13-jährige, 16-jährige.

UnAuf: Das ist schlimm. In Deutschland geht’s den meisten echt viel zu gut.

Arjang: Ja, und trotzdem halten sich irgendwelche Leute für Sophie Scholl, nur weil sie gegen Corona-Maßnahmen demonstrieren.

Vielen Dank für das Gespräch.