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Russland: Tulpen statt Gleichberechtigung

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Alina Grubnyak/unsplash.com

Zu Zeiten der Sowjetunion noch wegweisend, was die Emanzipation der Frauen anging, steht Russland mittlerweile sinnbildlich für eine patriarchale Gesellschaft mit einer traditionellen Aufteilung der Geschlechterrollen. Feminismus bleibt für viele ein rotes Tuch. Und trotzdem wird der 8. März zelebriert, wie in keinem westlichen Land. Passt das zusammen?

Wenn man Anfang März durch die Shoppingcenter der westsibirischen Stadt Tjumen schlendert, dann übertrumpfen sich die Bekleidungs-, Schuh- und Kosmetikgeschäften gegenseitig mit Sonderangeboten zum Weltfrauentag. Davor stehen in den grell ausgeleuchteten Gängen wackelige Verkaufstische, auf denen sich Tulpen in den verschiedensten Farben türmen. Am 8. März werden hier Geschäftsmänner hinter Schülern und Rentnern Schlange stehen, um Blumen für ihre Ehefrauen, Partnerinnen, weibliche Familienangehörige, Arbeitskolleginnen und Mitschülerinnen zu kaufen. Besonders Dankbare verschenken dazu noch Pralinen, Kosmetika, Kleidung oder andere Aufmerksamkeiten. Während andernorts der Valentinstag für satte Umsatzsteigerungen sorgt, lässt hier der Weltfrauentag die Kassen klingeln.

Der 8. März ist in Russland seit 1966 ein gesetzlicher Feiertag, an dem Schulen, Universitäten und viele Unternehmen geschlossen bleiben. Denn was oft vergessen wird, wenn von Europa aus geringschätzig auf die heute antiquierte russische Geschlechterrollenverteilung geblickt wird – bis in die 1970er Jahre übernahm die Sowjetunion eine Vorbildfunktion für viele westliche Feministinnen. 1920 war es das erste Land, in dem Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der ersten zwölf Wochen nicht mehr unter Strafe gestellt und bis 1924 sogar kostenfrei zugänglich gemacht wurden. Obwohl Stalin 1936 erneut ein Verbot erlies, erfolgte dessen Aufhebung 1955 und damit vor den meisten westeuropäischen Ländern. In Polen und Spanien war es zwischenzeitlich erlaubt. Frauenarbeit gehörte in der Sowjetunion zur Normalität und wurde durch Initiativen wie Kindergeld und bezahlte Elternzeit vom Staat gefördert. 

Trotz der verstärkten wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frau sowie ihrem Vorsprung gegenüber den Europäerinnen blieb die Realität allerdings hinter den sozialistischen Idealen zurück. Frauen verdienten weniger als Männer und hatten schlechtere Aufstiegschancen, sodass deren Position als Familienoberhaupt nie in Frage gestellt wurde. Und auch private Themen wie die Aufteilung der Hausarbeit blieben von der Politik unberührt; häusliche Gewalt eine Familienangelegenheit – bis heute.

3.000 Frauen wurden 2018 laut staatlichen Behörden von ihrem Partner getötet

„Ich weiß nicht, ob es in anderen Familien normal ist, weil niemand darüber redet … aber in meiner war es so“, sagt Dascha (18) nach kurzem Zögern. Damit beantwortet die Studentin, ob häusliche Gewalt in Russland zum Alltag gehöre. Etwas später fügt sie lächelnd hinzu: „Wegen dem Alkoholmissbrauch – passiert hier schon häufig.“ Auch die Zahlen belegen, dass das Leben vieler Russinnen nicht von Blumen und Pralinen geprägt ist, sondern von Gewalt. 1999 meldete das russische Innenministerium noch knapp 13.000 Femizide an die UN. 2018 wurden laut der staatlichen Statistikbehörde Rosstat 3.000 Frauen von ihren Partnern getötet.

Von Frauenrechtsorganisationen wird allerdings ein erneuter Anstieg befürchtet, weil 2017 das Gesetz für häusliche Gewalt entkriminalisiert wurde. Seitdem stellen Misshandlungen durch den Partner keinen Straftatbestand mehr dar, sondern nur noch eine Ordnungswidrigkeit, die mit ein paar hundert Euro Bußgeld geahndet wird. Eine Entwicklung, die auch durch das einflussreiche Oberhaupt der orthodoxen Kirche Patriarch Kirill I. unterstützt wird.

Symbolisch für den gleichgültigen Umgang der russischen Behörden mit häuslicher Gewalt steht der Fall Jana Savchuk, der Anfang 2020 durch die westlichen Medien ging. Auf ihren Hilferuf bei der Polizei reagierte die damals leitende Bezirkspolizistin mit den Worten: „Falls Sie getötet werden, kommen wir auf jeden Fall, um die Leiche zu protokollieren. Machen Sie sich keine Sorgen.“ – Eine halbe Stunde später wurde Jana von ihrem Partner getötet. Auch Dascha kennt diese Gleichgültigkeit. „Hier glaubt man eher den Männern als den Frauen“, sagt sie. „Einmal als mein Vater meine Mutter geschlagen hat, bin ich aus der Wohnung gerannt und habe einen Nachbarn um Hilfe gebeten. Er hat mir nicht geglaubt und einfach die Tür zugeschlagen. Damals war ich 8 Jahre alt.“

“Frauen werden nur als Objekt gesehen”

Am Weltfrauentag wird häusliche Gewalt in der russischen Öffentlichkeit nicht thematisiert. Stattdessen dankte Präsident Vladimir Putin in seiner letztjährigen Ansprache den Frauen für ihre Arbeit als Hausfrauen, Mütter und schön-anzusehende Berufstätige ebenso wie für ihr weibliches, charmantes, schönes Wesen. Er lobte außerdem, dass die Russinnen nie ihren Platz im Haushalt vergessen und traditionelle Familienwerte von Generation zu Generation weitergeben würden. Immerhin fordert er die Männer auf, ihre Frauen bei deren Tätigkeiten zu unterstützen – so sieht Emanzipation in Russland heute aus.

„Viele Frauen wissen gar nicht, dass der 8. März eigentlich ein feministischer Feiertag ist“, sagt Irina (28). „Hier in Russland wird Frauen an diesem Tag dafür gedankt, dass sie die Männerwelt besser machen; dann wird einmal Frühstück gemacht und wenn die Blumen am 9. März den Kopf hängen lassen, kümmern sich wieder die Frauen darum.“ Sie bezeichnet sich als Feministin – auch wenn ihr das manchmal schwerfällt, weil in der russischen Öffentlichkeit das Bild einer ungepflegten Frau vorherrsche, die weder einen Mann gefunden noch Kinder bekommen habe und den Männern nun etwas wegnehmen wolle. „Frauen werden nur als Objekt gesehen. Deshalb gibt es hier auch so viel häusliche Gewalt; es ist leichter ein Objekt zu schlagen als einen anderen Menschen“, sagt Irina.

Ein Artikel des nicht-staatlichen Online-Magazins Meduza bestätigt, dass häusliche Gewalt in der russischen Gesellschaft weniger kritisch wahrgenommen wird. In einer 2020 veröffentlichten Umfrage gaben 50 % der Befragten an, dass Sex ohne Einverständnis des/der Partner*in kein Missbrauch sei.  Zum Vergleich: In Europa fanden in einer Umfrage von 2016 27 % der Befragten Sex ohne Einverständnis unter bestimmten Bedingungen okay.

Frauen fordern, häusliche Gewalt wieder unter Strafe zu stellen

Ob der 8. März in Russland anders gefeiert werden müsse? Feministischer? „Ja, wahrscheinlich schon“, antwortet Irina. „Ich bekomme auch gerne Blumen und Pralinen, aber am Ende hört man immer das Gleiche; ‘Danke, dass du so schön bist.’“ Neben den offiziellen Veranstaltungen gab es am 8. März in den letzten Jahren auch Demonstrationen in einigen russischen Städten. Dort forderten Frauen unter anderem ein Gesetz, das häusliche Gewalt wieder unter Strafe stellt, eine Angleichung der Löhne und dass alle Berufe auch Frauen zugänglich gemacht werden – denn bislang können beispielsweise nur Männer Minenarbeiter werden.

Anastasia (26) sieht den 8. März versöhnlicher: „Ich denke, jedes Land hat seine Traditionen, die nicht den modernen Werten entsprechen – aber es tut niemandem weh, wenn Frauen Blumen geschenkt bekommen und ehrliche Komplimente hören.“ Für sie hat sich die Bedeutung des Tages in den letzten Jahrzehnten einfach verändert und ist von einem feministischen Kampftag zu einem Familienfeiertag geworden. Sprüche wie „Sei leise, Frau. Dein Tag ist der 8. März und dein Platz in der Küche.“, die in Russland häufiger fallen sollen, kann sie trotzdem nicht nachvollziehen. Und auch, dass Putins Regentschaft zu einer Re-Traditionalisierung der Werte und Geschlechterrollen geführt hat, sieht sie kritisch. Sie sagt: „Ich sehe Feminismus positiv, aber es muss immer eine Balance mit den Traditionen geben.“

Dascha äußert sich nur vorsichtig, wenn es um die Rolle der Frau in der russischen Gesellschaft geht. „Ich möchte nicht darüber nachdenken, ob eine Ungleichheit zwischen den Geschlechtern besteht, aber ich glaube unsere Situation ist nicht so schlecht“, sagt sie. Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Ich denke aber, es ändert sich etwas … ich hoffe es.“