Thessaloniki ist nicht London, Madrid oder Paris. Thessaloniki ist eine Metropole auf dem Balkan. Die Griechen halten sie für die heimliche Hauptstadt ihres Landes. Das Nachtleben sei legendär und trotz Corona-Einschränkungen hält man daran fest. Auf dem Olymp, so sagt man, hausen die Götter. Direkt gegenüber gastieren Studierende aus aller Welt und feiern die „europäische Erfahrung“. Braucht es mehr Gründe für Erasmus?
Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben. Alexander von Humboldt musste für diesen einen Satz einen Ozean überqueren. Letztens saß ich auf einer ruinösen Mauer und googelte danach. Ich hatte mir seitdem viel in Thessaloniki angeschaut, meistens Fassaden, Plätze und Cafés. Als ich Ende September in diesem Land ankam, fühlte ich mich stets ungut. Da schaute ich mir die Insta-Stories jener Erasmus-Studierenden an, die bereits seit einigen Wochen hier lebten. Wandertouren mit Eseln auf dem Olymp, Tauchgänge auf der Halbinsel Chalkidiki, Segeln auf Korfu. Ich sah azurblaue Räume und winkende Menschen. Irgendwo gab es immer das was zu sehen.
Was wäre Erasmus ohne Ausflüge! Das ständige Unterwegssein ist ein must have. Manchmal kommt es mir so vor, als bestimme das den ganzen Wert der Auslandserfahrung. Meine Erasmus-Koordinatorin sagte mir in unserem Zoom-Gespräch, dass ich trotz Anwesenheitspflicht auch Sitzungen verpassen könne. Solche Vorschläge stressen mich gewaltig. Allen Erasmus-Studierenden ging es ähnlich: bloß raus aus der Stadt und in alter Konsummanier jeden Ort abklappern, der sich irgendwie als Reisegeschichte erzählen lässt.
Noch vor dem Lockdown war der alte Hafen von Thessaloniki der Anlaufpunkt aller Studierenden. Hier bildeten sich die Reisegruppen. Zu fünft ist ein Mietwagen immer noch am günstigsten. Dazu kam die Angst vor der zweiten Welle. Wohin es gehen sollte, war daher unwichtig. Natürlich Athen, da will jeder hin und sich ein airbnb mit Blick auf die Akropolis sichern. Die ganzen Inseln dürften nicht fehlen. Schnell kam die Frage auf, wann man am besten Santorini und Rhodos besuchen sollte, wie günstig die Flüge seien und so weiter. Mit der Fähre braucht man verdammt lange und unter der Woche sind Kurse, also scheint Fliegen die einzige Option. Warum man unbedingt auf Inseln fliegen muss, weiß ich nicht. Ich hatte Lust darauf, und befürchtete, zu wenig gesehen zu haben. Meinen Flug nach Kreta buchte ich, ohne groß darüber nachzudenken. Unterwegs schaute ich Hauswände an, die man pittoresk nennen könnte. In den Dörfern schaute ich Menschen dabei zu, wie sie uns anschauten. Gelinde gesagt, sah ich oft mehr, als ich erhofft hatte und kratzte doch nur an der Oberfläche. An Postkartenständern fragte ich mich, wieso ich für manche Orte nichts empfand.
Wenn ich es hochrechne, sind mindestens tausend Straßenkilometer zusammengekommen. Die Mietwagen waren fast alle Benziner. Die besten Preise macht Chalkidiki-Cars. Da wird der Nissan Micra für täglich 48 Euro zur großen Freiheit. Die Unterböden ließen wir uns versichern, weil manche Straßen keine Straßen waren. Wir verfuhren uns in Olivenhainen. Ich kostete zum ersten Mal eine Olive, die nicht eingelegt war. Etwas so Bitteres habe ich noch nie zuvor gegessen und wieder ausgespuckt. In den Ruinen von Olinthos sahen wir die Überreste einer antiken Stadt. Lediglich die Fundamente sind erhalten geblieben. Manche Mosaike blieben trotz der ewigen Winde und Regen sichtbar. Sie waren ganz verblasst und wurden lediglich durch Gitter oder abgebrochene Wände geschützt. Trotzdem erinnere ich mich nur an die lila Werbetafel auf dem Parkplatz mit der Aufschrift Ταβέρνα (Taverna). Auf Chalkidiki hätte ich fast ein Motorrad umgefahren. In Meteora mussten sich Frauen einen knallroten, pinken oder orangenen Rock kaufen, damit sie die Klöster besuchen konnten.
Bei einem Zwischenstopp in Olympiada suchten wir nach der Wiege des Aristoteles. Das Besucherzentrum schloss, bevor wir es erreichten. Wir fanden sein überlebensgroßes Abbild auf einer Hauswand und aßen Souvlaki mit Senf. Auf der Insel Thassos verfuhren wir uns in einem Wald und kauften einer alten Frau Honig, Schnaps und Olivenöl ab. Auf dem Weg zum Pindos Nationalpark wunderten wir uns, warum um Kozani die Autobahn so leer war. Die Stadt durchlebte bereits Mitte Oktober einen Lockdown. Wir fuhren daran vorbei.
Und schließlich hätten wir beinahe die Fähre nach Samothraki verpasst. Wir verstießen gegen jede Geschwindigkeitsregel, um sie zu bekommen. Auf den gelben Sitzbänken klebten Warnhinweise, dass man hier nicht sitzen darf. Auf dem Meer wurden Abstände und Maskenpflicht ernst genommen. Auf Samothraki saßen wir in unserem kleinen airbnb und lasen die ersten Corona-Meldungen aus Thessaloniki. Auch Erasmus-Studierende seien infiziert. Die nächste Fähre würde erst in zwei Tagen zurückfahren, also blieben wir gelassen. Zurück auf dem Festland machten wir einen Zwischenstopp in Alexandroupoli. Im Santa Rosa Hotel glaubte ich niemanden außer uns. Eine rostige Gartentür trennte uns vom Meer und am Strand traf man niemanden mehr an. In der Nebensaison ist das Frühstücksbuffet geschlossen. Wir waren alle froh, nochmal rausgekommen zu sein. Thessaloniki ist jetzt im Lockdown und mein Flug nach Kreta ist auch storniert.