Thessaloniki ist nicht London, Madrid oder Paris. Thessaloniki ist eine Metropole auf dem Balkan. Die Griechen halten sie für die heimliche Hauptstadt ihres Landes. Das Nachtleben sei legendär und trotz Corona-Einschränkungen hält man daran fest. Auf dem Olymp, so sagt man, hausen die Götter. Direkt gegenüber gastieren Studierende aus aller Welt und feiern die „europäische Erfahrung“. Braucht es mehr Gründe für Erasmus?
Wenn ich ehrlich bin, reproduzierte ich jeden Tag mindestens ein Vorurteil über Griechenland, und ich denke, viele Erasmus-Studierende tun das auch. Ich meine damit keine böse Absicht. Ganz im Gegenteil sorgen manch alltägliche Bemerkungen dafür Stereotype zu verbreiten. Zum Beispiel loben wir die griechische Lebensart, oder zumindest das was wir für die griechische Lebensart halten. Die Griechen trinken immer Ouzo, sitzen an der Straße und genießen ihr Leben im mediterranen Süden. Wer Sonnenschein hat, muss nicht reich sein. Davon könnten wir uns eine Scheibe abschneiden. Das Klima hier unten tut den Menschen gut, aber es macht sie auch faul. Ich meine, die Straßen sind nicht gerade sauber. Bei dem milden Klima würde ich auch nicht arbeiten wollen. Solche Sätze kommen einem bekannt vor, oder? Jedenfalls bin ich mit dem Wunsch hier runtergekommen, die lockere Lebensart auszuprobieren. Und passender Weise kenne ich sogar ein Lied, dass dieses Lebensgefühl anscheinend vermittelt.
Letztens fuhr mit anderen Erasmus-Studierenden durch ein Tal aus Kalkstein und Flieder. Wir öffneten die Fenster des gemieteten Toyota Yaris, Wind wehte uns durchs Haar. So eine Szenerie hatte ich nie zuvor gesehen. Ich fühlte mich frei, so griechisch halt. Einer meinte, jetzt solle man doch Udo Jürgens spielen. Und tatsächlich stimmten wir alle die anscheinend griechischste aller Lobeshymnen an: Griechischer Wein. Das war es, das war die Lebensart, die ich wollte! Das Setting passte! Schenk nochmal nach! Ich erinnere mich an einen WELT-Artikel, in dem die verblüffende Erkenntnis ans Licht kam, dass kaum ein Grieche Udo Jürgens kennt. Und ehrlich gesagt, ich habe es probiert, aber keine Taverne gefunden, in der mich „Männer mit braunen Augen und mit schwarzem Haar“ zum Wein eingeladen hätten. Auch erklang aus keiner Jukebox Musik, die „fremd und südlich war“. Das wünscht sich wahrscheinlich jeder einmal von uns.
Die Erasmus-Studierenden halten im Prinzip das ganze Land für ziemlich locker. Meine Vermieterin meinte, dass das auch stimmt. Die Griechen gehen gerne aus, sagte sie. Bis in den Herbst hinein waren Straßen und Plätze übersät mit Stühlen, Tischen und Sonnenschirmen. Noch im Oktober waren Bars, Cafés und Restaurants zu jeder Tageszeit gut besucht. Ich bildete mir ein in einem gastronomisch urbanen Experiment zu leben. Einen bitteren Nachgeschmack hatte meine Beobachtung. Zu Beginn glaubte ich, das ganze Land befände sich in einem kollektiven Pausenmodus und hält Siesta. Selbstverständlich ist das oberflächlich und arrogant. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Wenn der Müll nicht sofort getrennt wird, der Gyrosstand das Essen in zu viel Plastik verpackt und Ampelzeiten großzügig interpretiert werden, ertappte ich mich bei solchen Gedanken: Die Griechen wieder… haben kein Sinn für Nachhaltigkeit und geordnete Verhältnisse. Manch ein Erasmus-Student wird die Verhältnisse belächelt haben. Oft hörte man auch, dass das alles hier „ein wenig anders läuft“.
Udo Jürgens Schlager-Knaller Griechischer Wein beschrieb für mich ein solches Bild der lockeren Griechen. Dabei beschreibt der Sänger keine romantische Sehnsucht nach einem Griechenland, dass sich der deutsche Pauschaltourist spätestens seit den 70er Jahren herbeisehnt. Er beschreibt nicht das fremde Land jenseits einer kapitalistischen Leistungslogik, sondern das Heimweh derer, die ihr Land verlassen mussten. Als der Song 1974 die deutschsprachigen Chartlisten anführte, brach die griechische Militärdiktatur in sich zusammen. Während dieser Zeit hatte sich das Land massiv verschuldet und viele Gastarbeiter*innen zogen nach Deutschland. Jürgens arbeitete damals mit Michael Kunze zusammen, der die Idee dazu hatte, das Lied im Ruhrgebiet anzusiedeln. Es erzählt vom Heimweh und dem Fremdsein im Gastland. Und selbst wenn es der Refrain nicht vermuten lässt – und ich bin sicher, dass den jeder von euch mindestens einmal mitgesungen hat! – steckt in dem Lied die Melancholie und Trauer der Entwurzelten. Der Terminus „Gastarbeiter“ ist problematisch: Diese Menschen wurden lediglich als Arbeitskräfte geduldet. Es war nie vorgesehen, dass sie bleiben konnten, geschweige denn sich in Deutschland heimisch fühlen sollten. Sie waren Gäste, ohne wirklich Gäste sein zu dürfen.
Was bleibt noch zu sagen? Nun, ich sehe Udo Jürgens Hitparaden-Burner in einem ganz anderen Licht. Der Moment wird kommen, wo sich Erasmus-Studierende treffen, in einer Küche den Kanister Retsina leeren und jenes Lied anstimmen, von dem der ehemalige Hitparaden-Moderator Dieter Thomas Heck sagte, es habe uns auf den Geschmack gebracht. Und vielleicht werde ich mich kurz daran erinnern, ein Lied über jene Menschen zu singen, die in einem fremden Land zwar zu Gast waren, aber nie wirklich ankommen konnten.