Thessaloniki ist nicht London, Madrid oder Paris. Thessaloniki ist eine Metropole auf dem Balkan. Die Griechen halten sie für die heimliche Hauptstadt ihres Landes. Das Nachtleben sei legendär und trotz Corona-Einschränkungen hält man daran fest. Auf dem Olymp, so sagt man, hausen die Götter. Direkt gegenüber gastieren Studierende aus aller Welt und feiern die „europäische Erfahrung“. Braucht es mehr Gründe für Erasmus?
AΠΘ – ist das ein Wort? Für mich ist das griechische Alphabet die perfekte Mischung aus Kyrillisch und Latein. Jedenfalls glaube ich das. [ÁNÓ] spricht man es jedenfalls nicht aus. Kleiner Hinweis: Man kann es nicht aussprechen. Man ist sprachlos. Aber AΠΘ stand gleich zu Beginn in meinem Anmeldeformular für die Aufnahme an die Aristoteles Universität Thessaloniki. Einen Reim konnte ich mir daraus nicht machen und nahm es sportlich: Die erste Herausforderung des kommenden Erasmus-Semesters! Grow beyond yourself! Take the chance! Oder welche Plattitüde auch immer. Überhaupt kann ich niemanden erklären, warum ich mich für Thessaloniki entschieden habe. Einmal habe ich die griechisch nordmazedonische Grenze besucht. Das ist eine EU-Außengrenze mit ziemlich viel Stacheldraht und Soldaten zu beiden Seiten des Zaunes. Dort las ich auf einer Verkehrstafel: „Thessaloniki“. Als männlicher weißer Deutscher, der an fast jeder Grenze nur seinen Personalausweis zücken muss, dachte ich, da muss ich hin. Die Stadt will ich mal gesehen haben. Aber gleich dort studieren?
Tja! Für Thessaloniki reicht B2 Englisch. Ich muss nicht mal griechisch können. Das ist purer Luxus! Außerdem genieße ich den Abstand zur Bundesrepublik. Die ganzen schlechten Nachrichten, die AfD sowieso als Inbegriff der schlechten Nachricht. Das alles gibt es hier nicht, weil ich die Nachrichten nicht lesen kann. „Du bist jetzt in Griechenland. Das hat dich nicht zu interessieren. Genieße deine Zeit“, sagen meine Freund*innen. Es ist wie Urlaub hier und ich denke, sie haben Recht. Mit möglichst wenig Aufwand sitze ich jetzt am Mittelmeer. Zwar mit Abstand und Maske, aber ich sitze am Mittelmeer.
Mit Griechenland verbindet mich daher weder die Sprache (AΠΘ) noch die Kultur. Ob die Säule jetzt dorisch oder ionisch ist, bleibt mir ein Rätsel. Ich habe das Land nie bereist und kann doch mit derselben Gewissheit sagen, es als europäischer Bürger bereisen zu können. Mit Letten, Franzosen und Polen an einem Tisch sitzen und Ouzo kippen, während sich dieser Kontinent vor seinen humanitären Pflichten verschließt. Man weiß um Moria, aber das gehört nicht zur europäischen Erfahrung „ERASMUS“. Ihr merkt sicherlich, worauf ich hinaus will: Hier prallen Gegensätze aufeinander und irgendwie weiß ich nicht, was meine Antwort darauf ist. In meinem Lebenslauf werde ich später einmal wahrheitsgetreu angeben, dass mich „das Fremde“ interessiert habe und dass ich diese Erfahrung sehr genossen habe. Ich werde flaschenweise Ouzo kaufen und das Übergepäck selbstverständlich in bar zahlen. Vor meinen Freunden werde ich prahlen, dass ich nicht mal die Sprache konnte! Als deutsche Staatsbürger*innen kann man das scheinbar machen. Umgekehrt ist´s schwieriger.
Aber zurück zur Sprachlosigkeit: Zum Geburtstag schenkte mir eine Freundin den Langenscheidt Sprachführer „Griechisch“. Das griechische Alphabet habe ich erstmal übersprungen und stürzte mich auf die lateinischen Buchstaben. Und es ist wie es ist: Alles bleibt so schrecklich fern und es gibt anscheinend keine Fragen mehr. Ein entkoppeltes rundes Leben. Die Außengrenz-Politik der EU, das maritime Aufrüsten zwischen Griechenland und der Türkei – Begleiterscheinungen, die ich als Zeuge der „europäischen Erfahrung“ in meinem Erasmus-Semester nicht ausblenden möchte. Wenn man in einer Bucht im Türkis des Mittelmeeres badet, ist alles so schrecklich weit weg. Aber was bleibt davon zwischen Einführungsveranstaltungen und Ouzo 12? Ich werde der Sache nachgehen müssen. Zumindest habe ich AΠΘ lösen können! Es ist kein Wort! Das ist eine Abkürzung und bedeutet AUTH – das steht für Aristoteles Universität Thessaloniki. Hat mich eine halbe Stunde Lebenszeit gekostet, das zu übersetzen.