12. April 2020
Seit einigen Wochen ertappe ich mich dabei, wie ich mir am Liebsten schon beim Mittagessen vor Stolz auf die eigene Schulter klopfen würde. Während der Tag noch in seinen Kinderschuhen steckt, habe ich bereits jede Minute davon effektiv genutzt. – Zumindest rede ich mir das über einer meiner Opfernudeln-mit-Tomatensoße-Variationen ein.
Denn jeden zweiten Tag Sport zu machen, ist mittlerweile zu einem festen Bestandteil meiner Quarantäneroutine geworden. Dann schinde ich mich zuerst 20 Minuten zu einem Workout von Pamela Reif – und zwar trotz der berechtigten Angst, dass der zart besaitete Nachbar ein Stockwerk tiefer, wegen ein paar Jumping Squats mal wieder komplett durchdrehen könnte. Anschließend gönne ich mir eine kleine Pause, die ich größtenteils damit verbringe, mit hochrotem Kopf und nach Luft ringend auf dem Boden zu liegen. In dieser Zeit klammere ich mich an den Gedanken, dass Pam immerhin gesagt hat, wie stolz sie auf mich und mein sportliches Engagement ist. Wenn sich mein Puls halbwegs beruhigt hat, schnalle ich mir meine Laufschuhe an und jogge noch eine halbe Stunde gazellengleich durch Mitte. Erst seit die Touristen fehlen, ist mir aufgefallen, wie breit die Bürgersteige hier eigentlich sind – die Einhaltung des Sicherheitsabstands gelingt deswegen meistens problemlos.
An den Tagen, an denen ich keinen Sport mache, nutze ich die Zeit oft, um einen Kuchen zu backen. Der anfänglichen Mehlknappheit habe ich dabei mit Kichererbsenmus getrotzt (ja, es schmeckt so wie es klingt, aber es geht mehr um die Beschäftigung, als um das kulinarische Erlebnis). Oder ich probiere mich an einem neuen Kochrezept. Oder ich creme mir nach der Rasur sogar noch die Beine ein. Oder ich setze mich mit einem Buch auf den Balkon, um an meinen Sommersprossen zu arbeiten – und an meiner Belesenheit, aber das eigentlich nur nebenbei.
Vielleicht mögen diese paar Aktivitäten nun nicht nach Effizienz klingen, aber für mich ist das schon eine 180-Grad-Drehung. Immerhin bildeten bis jetzt die Treppen in der Dorotheenstraße 24 mein einziges Workout – wobei ich dort ebenfalls jedes Mal mit hochrotem Kopf und nach Luft ringend im fünften Stock ankam. Daran, wann ich vor Corona zuletzt einen Kuchen gebacken habe, kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.
Leider verflüchtigt sich der eingangs gepriesene Stolz bis zum Abendessen häufig wieder, weil meine Leistungskurve im Laufe des Tages ziemlich krass absackt. Während ich an den Nachmittagen oft mit der Arbeit an meinen Sommersprossen voll ausgelastet bin, belohne ich mich am Abend mit ein paar Gläsern Wein und dem Tiger King. Und so schiebe ich die einzige unirrelevante Aufgabe, die ich in den letzten beiden Monaten bewerkstelligen hätte sollen, immer noch vor mir her – ein sechsseitiges Portfolio. Der Abgabetermin dafür wäre eigentlich der 31.3. gewesen, wurde Dank Corona aber auf den 31.5. verschoben. Bleibt also noch etwas Zeit, um effizient zu prokrastinieren.
29. März 2020
Vermutlich gehöre ich zu jenen Menschen, die den Coronavirus etwas zu lange auf die leichte Schulter nahmen. Denn als ich noch vor den Ausgangsbeschränkungen meinen ersten Raubzug durch die Supermärkte und Discounter startete, waren die Regale bereits wie leergefegt – Fusilli, Tomatensauce, Mehl und Toilettenpapier sollten somit vorerst eine Erinnerung an bessere Zeiten bleiben. Stattdessen schnappte ich mir die übriggebliebenen Vollkornspagetti, die immerhin bereits erprobt im Social Distancing waren, nachdem sich alle anderen Nudelsorten von ihnen verabschiedet hatten.
Dazu kamen eine Packung Küchenrollen und zwei Dosen Mais – letztere eigentlich nur aus Solidarität mit anderen Panikkäufern. Wie ich mir daraus eine halbwegs vernünftige Mahlzeit basteln wollte, wusste ich selbst nicht, aber immerhin war ich im selben Boot mit allen anderen, die nahezu rekordverdächtig wahllos-zusammengewürfeltes Dosenfutter in ihren Einkaufswägen stapelten.
Mangels Nahrungsmittelvorrat entschied ich mich weiterhin wöchentlich einkaufen zu gehen. Stunde um Stunde meiner ersten Quarantänewoche fieberte ich dem Freitagvormittag entgegen, den ich bereits Tage im Voraus für einen Besuch bei Rewe auserkoren hatte. Dass sich dort seit meinem gescheiterten Hamsterkauf-Versuch so einiges geändert hatte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen.
Mit kindlicher Unschuld ging ich in den Laden, der jetzt von einem Security-Mitarbeiter bewacht wurde. Ich vermutete, dass dieser im Zuge der coronabedingten Clubschließungen seinen alten Job eingebüßt hatte und sich jetzt hier lang machen musste. Unschlüssig ob mein Outfit dem Dresscode entsprach und ich ihm meinen Ausweis zeigen oder den Namen der Veranstaltung nennen musste, ging ich erstmal – Selbstbewusstsein mimend – an ihm vorbei. Er musterte mich zwar mit strengem Blick und vor der Brust verschränkten Armen, lies mich aber erstmal gewähren. Die erste Hürde war geschafft.
Als sich meine Augen an die ungewöhnlich düsteren Lichtverhältnisse im Laden gewöhnt hatten, fielen mir auch dort erste Veränderungen auf. Die Lücken in den Regalen waren mit dekorativen Hinweisschildern versehen worden. Sie ermahnten dazu, mindestens 1,5 Meter Abstand zu den übrigen Kunden zu halten.
Leicht verunsichert schlich ich zur Brottheke, um festzustellen, dass sich die Auswahl auf zwei nicht sonderlich attraktiv wirkende Laibe verknappt hatte. Ich vergewisserte mich nach allen Seiten, dass keine Person in der Nähe war, die das Brot vielleicht dringender gebraucht hätte. Schließlich nahm ich eines – das schlechte Gewissen nagte währenddessen an mir. Später stellte ich zwar fest, dass es im hinteren Teil des Ladens noch eine reichliche Auswahl an Backwaren geben sollte. Zudem sahen die allesamt besser aus als jenes, dass ich gewählt hatte. Tauschen ging aber natürlich nicht mehr – der Security-Mitarbeiter saß mir im Nacken.
Aber selbst ohne den wäre ich mir reichlich beobachtet vorgekommen. Denn während ich mich durch die viel zu engen Gänge schob – darauf bedacht, einen respektablen Abstand zu allem und jedem zu halten, wurde ich unentwegt von angsterfüllten Augenpaaren begleitet. Mir war bis dahin noch gar nicht klar geworden, dass jetzt schließlich jeder Mensch ein Mordwerkzeug darstellte, auch gänzlich unbewaffnet und symptomfrei. Dass ich davon nicht ausgenommen war und man vor mir auf der Hut sein musste – vollkommen verständlich.
Die ganze Szene machte mich trotzdem so nervös, dass ich bereits meinte, spüren zu können, wie sich ein Huster anbahnte – obwohl ich die letzten Wochen kerngesund gewesen war und nicht mal eine Verkühlung gehabt hatte. Wohlwissend, dass schon das kleinste Räuspern meinen gesellschaftlichen Untergang bedeuten würde, beeilte ich mich, zur Kasse zu kommen.
Immerhin strahlte die Mitarbeiterin dort eine solche Ruhe aus, dass ich mich schnell wieder beruhigte. Sie schob meine Produkte über den Scanner, ich packte sie ein – dann konnte nichts mehr schief gehen, schließlich fehlte nur noch die Zahlung. Ich unterschätzte allerdings die Neuartigkeit der altbekannten Situation und fiel in schlechte Gewohnheiten – zahlte bar, statt mit Karte.
Das heißt, ich legte meinen Schein in eine Plastikschale, die Kassiererin nahm ihn heraus und gab im Gegenzug das Wechselgeld hinein. Um meine Dankbarkeit für ihre Arbeit zu zeigen, lies ich ein paar Münzen liegen, murmelte Grußworte und steuerte auf den Ausgang zu. „Sie haben Ihr Geld vergessen“, schalte die Dame mich sofort. Ich blieb wie angewurzelt stehen, ging dann zurück und murmelte etwas von wegen, dass das Trinkgeld hätte sein sollen. Unter ihrem strengen Blick steckte ich die Münzen ein.
Beim Hinausgehen wusste ich, dass ich auf ganzer Linie versagt hatte. Mein einziger Hoffnungsschimmer bleibt, dass ich in den nächsten Wochen noch genügend Zeit haben werde, mich mit den neuen (Supermarkt-)Umgangsformen vertraut zu machen. Und wie man sich dann nach Corona zu verhalten hat – mit solchen Herausforderungen möchte ich mich jetzt noch gar nicht beschäftigen.