“Was Sie sehen ist die Wahrheit, was Sie hören ist die Wahrheit“ ist das Motto des türkischen Nachrichtensenders, für den die junge Hasret (Algı Eke) arbeitet. Ab dem Moment, in dem sie das moderne Bürogebäude betritt, sind Zweifel und Kritik verboten. „Wenn du kritisieren willst, dann solltest du vielleicht lieber Kolumnen schreiben“, ist die Antwort auf ihre wiederkehrende Skepsis. Aber Hasret schreibt keine Kolumnen, sie editiert und schneidet die Voiceovers der Reden der einflussreichsten Politiker des Landes und hat damit die Macht, die Wahrheit neu zu erfinden. Ihren Kollegen gefällt der Job. Ohne ein Wimpernzucken schneiden sie das Videomaterial maßgefertigt zurecht. Auf Anweisung von oben werden Schlüsselsequenzen für immer gelöscht. Während die Anderen genau das tun, was man von ihnen will, entspinnt sich in Hasrets Kopf eine beängstigende Verschwörungstheorie, die mehr Wahrheit beinhaltet, als die von ihr produzierten Fernsehbeiträge.

Ceylan Özgün Özçelik greift in Kaygı (Inflame), der einzigen türkischen Produktion der diesjährigen Berlinale, genau das Thema auf, das man 2017 von einer jungen türkischen Regie-Debütantin erwarten würde: ein Portrait über eine junge Frau, deren Fassungslosigkeit über die verlogene Gesellschaft allmählich in Wahnsinn übergeht. Ein Spiegelbild der Gefühlswelt kritischer Intellektueller im Gefängnis Staat. Im Gefängnis Kopf. Der Film, der als Politdrama beginnt, entwickelt sich schnell zu einem verworrenen Psychothriller. Panorama trifft auf Paranoia und die Umsetzung bei der Weltpremiere auf große Begeisterung.

Es ist Winter in Istanbul. Es ist kalt und irgendwo in diesem tristen Grau, das man von der türkischen Metropole sonst kaum kennt, befindet sich die Niederlassung des Nachrichtensenders „Tek TV“. Hier arbeitet Hasret als Cutterin. Die Kamera verfolgt sie durch die engen Gänge des Bürogebäudes bis in ihr kleines Büro. In dieser winzigen Kammer hängen viele große Bildschirme, die Reden von Politikern zeigen. Hier werden all die Lügen produziert. Aggressiv rennt ihr Chef durch das Büro und verbreitet schreiend das strikt einzuhaltende Social-Media-Verbot. Hasrets Entsetzen ist ihr ins Gesicht geschrieben, aber bis sie das Büro verlässt, kann sie sich zusammenreißen. Dann verliert sie die Beherrschung, alles löst sich auf.

Hasrets schöne Altbauwohnung ist nicht mehr der stille Rückzugsort, der er einmal war. Irgendwoher tönt Baulärm. Bald soll auch ihr Haus abgerissen werden. Doch der Baulärm entwickelt sich in ein tinnitusartiges Pfeifen und aus dem Pfeifen werden Stimmen. Als Hasret ihren Job verliert, treibt es sie immer häufiger in einen trostlosen Park. Irgendetwas, dem sie machtlos ausgesetzt ist, zieht sie dort hin. Plötzlich steht da ein riesiger Hund. Sie folgt ihm und er bringt sie an einen vergessenen Ort, ins Jenseits. Sie hört Melodien, die sie eines fernen Tages schon mal hörte. Bilder ihrer Kindheitstage erinnern sie an den Tod ihrer Eltern. Zwischen all den Halluzinationen und verschwommenen Realitäten steht für sie eines fest: Es war kein Autounfall, der ihre Eltern damals aus ihrem Leben riss.

„Schatz, wir suchen dir einen Psychologen“, drängen Hasrets Freunde. Doch es ist zu spät. Sie ist auf einer Mission, auf der ihr dunkles verstaubtes Heim und das zensierte Internet zum Forschungslabor werden. Artefakte aus der Vergangenheit werden aus Kisten gekramt, der Holzboden übersät von Fotos, Zetteln und Bildern. Während die Geräusche lauter werden und die Geister in ihrem Kopf immer mehr Gestalt annehmen, führt die Aufklärung des Todes ihrer Eltern immer tiefer in die totgeschwiegene Geschichte der Türkei.

Es riecht verbrannt. Hasret kriecht schnüffelnd durch die Wohnung. Sie denkt, die Wände brennen. Es ist so heiß. Den Rande des Wahnsinns hat Hasret längst überschritten, aber genau dieses Hirngespinst bringt sie auf einen Pfad in Richtung Wahrheit.

Was ist Realität, was ist Illusion? „Bilmiyorum“ – ich weiß es nicht. Und genau das ist das Problem der türkischen Gesellschaft: Die historische Aufarbeitung hat versagt. Niemand wisse mehr was Wahrheit ist, wie die Dinge wirklich stattgefunden haben, erklärt die Regisseurin. „Ich bin mir sicher, dass ich ein Gehirn habe. Aber ich weiß nicht mehr, wie ich es benutzen soll“, sagt Hasret im Film. Wir vergessen alles, langsam verschwimmt die Erinnerung und wir müssen die Vergangenheit im Internet recherchieren. Doch was, wenn man dort nur zensierte Beiträge findet, die versuchen die Realität zu auszulöschen? Das treibe einen schließlich in den Wahnsinn und mit der Zeit entsteht eine politisch traumatisierte Gesellschaft. Diese portraitiert Kaygı (dt.: Zweifel, Unruhe) auf authentische, kreative und zerreißende Art – ganz ohne die schönen Stadtbilder Istanbuls und orientalische Musik.

Bären-Potential: Kaygı läuft in der Panorama Sektion. Daher wird es keinen Bären geben. Vielleicht klappt es aber mit dem Panorama Publikums-Preis. Das wird dann wohl darauf ankommen, ob das Publikum etwas mit experimentellem Kino anfangen kann…

BZQ-Punkte: Schon mal überlegt und das Studium zu schmeißen eine Ausbildung als Tontechniker zu machen? Kaygı könnte diesbezüglich Inspiration liefern.

Prokrastinationspotential: Während des Lernens befindet man sich auch manchmal am Rande des Wahnsinns. Da findet man sich in manchen Situationen im Film vielleicht selbst etwas wieder. Dann doch lieber Berlinale statt Bib, wenn es eh in Verzweiflung endet.

Kuschelfaktor: In den Szenen der Wahnvorstellungen, in denen beispielsweise plötzlich kreischend ein Vogelschwarm auf einen zufliegt, könnte man sich etwas erschrecken oder gar gruseln. Vielleicht ein Grund um näher zusammenzurutschen?

UnAuf-Punkte: 4 von 5

Kaygı – Inflame: Regie: Ceylan Özgün Özçelik. Mit: Algı Eke, Özgür Çevik, Kadir Çermik, Boncuk Yılmaz

 

Foto:

© Ceylan Özgün Özçelik