Familie, Töne, Natur und Verbundenheit. Das sind Begriffe, die mit L’Esprit des lieux in Verbindung gebracht werden können. Der Film der Regisseure Stéphane Manchematin und Serge Steyer verleiht einen faszinierenden Eindruck in das Leben des Toningenieurs Marc Namblard. Eine meditative Erfahrung darüber, was für unsere Ohren unbeachtet bleibt. 

Wie wäre es, vor einem Computer zu sitzen und Audioaufnahmen von unserer Kindheit mit der Familie auf der Couch zu hören? Würden wir unsere Stimmen erkennen? Was für Emotionen würden die flüchtigen Konversationen hervorrufen?

Der 1973 in Paris geborene Marc Namblard, der die Inspiration, mit Töne und Klänge zu arbeiten, durch seinen Vater erfuhr, dokumentiert die familiäre und natürliche Welt in Audio. Seine Familie und Freunde begleiten ihn während seiner forscherischen Praxis. 

Visuelle und auditive Poesie

Frankreich ist bekannt für seine experimentellen Filme. Die Auswahl der Bilder, der Schnitt und der Ton von L’Esprit des lieux schaffen eine visuelle und auditive Poesie. Der Film eröffnet mit einem Bild, in dem Marc Namblard sehr ruhig einen Vogel beobachtet und anhört, und endet mit einer Tonaufnahme von Marcs Kindheit. Der Filmverlauf ist nicht narrativ, sondern eher expositiv und dokumentarisch. Anstatt eine Geschichte zu erzählen, beschäftigt sich der Film mit der feinen und aufmerksamen Leidenschaft, Klänge und Phänomene aufzunehmen. Der Film springt dann hin und wieder von Marc mit seinem stereofonen Mikrofon mitten in die Natur, zu den Gesprächen mit Musikern für zukünftige Projekte oder zu Familienzusammenkünften, in denen die Aufnahmen immer präsent sind.

Welche Klänge assoziiert man mit Freude? Warum kommt uns diese Arbeit mit Tönen und Klängen als etwas Ungewöhnliches vor, während wir die Fassung der Realität mit Farben und Formen bei der Malerei als normale Praxis wahrnehmen? Wie klingt ein Eis, das von alleine bricht, und was für Gefühle werden dadurch evoziert? Wir sind vorwiegend eine visuelle Kultur. Täglich bombardieren uns hunderte von Bildern durch unterschiedliche Kanäle, ohne dass wir das selber steuern können. Trotzdem genießen wir diese visuelle Orientierung der Gesellschaft. Wir haben uns sogar selbst vor tausenden von Jahren auf den Wänden von Höhlen verewigt, und wir machen das immer noch, mehr als je zuvor, seit der Entwicklung der Fotografie. Unser Gehörsinn bleibt dabei vernachlässigt. Für eineinhalb Stunde lädt uns L’Esprit des lieux dazu ein, das zu ändern, und in das Reich der Töne einzutauchen.

Eine einsame aber spannende Arbeit

Wir sehen echte Menschen auf der Leinwand. Es handelt sich nicht um Schauspieler. Marc Namblard, den Tontechniker und Naturforscher gibt es wirklich. Er hat die Einladung bekommen, an diesem filmischen Projekt mitzumachen, nachdem  Stéphane Manchematin und Serge Steyer ihn bei seiner Erscheinung in La Maison de la radio (2013), in einem Dokumentarfilm über die Atmosphäre des Funkhauses von Radio France, gesehen haben. All die bezaubernden Szenen wurden bei Vogesen, in der Nähe von Nancy, in dem Haus von Marc Namblard und in dem tropischen Wald von Guyana gedreht. Marc zeigt sich als ein leidenschaftlicher Naturforscher, dessen Interesse nicht nur an der Erforschung, sondern auch an dem Weitergeben von Wissen liegt. Das geschieht nicht nur generationsübergreifend in der familiären Umgebung mit seiner Tochter Lucie, sondern auch in der Schule.

Der Zuschauer sollte bereit sein, einen unkonventionellen dokumentarischen Film zu sehen, in dem es keine Kommentare oder Interviews gibt. Es ist auf jeden Fall nicht die Art von Film, der am Wochenende im Fernseher laufen würde, da dieser kein Unterhaltungsfilm ist. Das klingt nach einem langen und komplizierten Film, aber wenn man sich die Zeit nimmt, steigt man in einen fesselnden Weltraum. Der Zuschauer ist durch die kommentarlose Handlung aufgefordert, seine eigene Kommentare zu machen, und sich selber als Forscher hinter Marcs Schultern anzuschließen.

 L’esprit des lieux

Regie: Stéphane Manchematin, Serge Steyer

Länge: 91 Minuten

Produktionsland: Frankreich