Das Leben in der Stadt ist für die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher nicht so interessant wie das Leben von Menschen auf dem Land. Mit ihrem Film „Die Chimäre“ präsentiert sie eine meditative Reise durch ein fantastisches Italien der Vergangenheit. Was für eine Freude!

Manchmal überkommt einen diese Italien-Sehnsucht. Da muss vermutlich nicht mehr viel hinzugefügt werden, denn wer sieht sich nicht in der Toskana auf dem Land und vor allem: in der Sonne? Der fantastisch-realistische Spielfilm “Die Chimäre” spielt in den 80er Jahren und zeigt genau sie: die Toskana. Die Schauplätze sind allerdings eher kleine, vermeintlich unscheinbare Dörfer auf Hängen, Industriegebiete und viel karge Natur. Auf den ersten Blick nicht spektakulär, auf den zweiten Blick aber irgendwie romantisch.

Alice Rohrwachers Film ist gerade deswegen interessant. Anstelle von pulsierenden Großstädten betrachtet die Regisseurin in ihren Filmen das Leben auf dem Land und zeigt die vielen Gesichter der Menschen, die dort leben. In ihren Filmen „Land der Wunder“ und „Glücklich wie Lazzaro“ hat sie dies bereits gestartet und eine lose zusammenhängende Trilogie erschaffen. Das wird sehr bildhaft, indem die Gesichter aller Figuren fokussiert werden und so auch den Nebenrollen Farbe verliehen wird. Vielleicht ist das eines der charakteristischen Elemente Rohrwachers. Die Hauptfiguren werden immer auch in ein soziales Umfeld eingebettet, das aktiv hervorgehoben wird.

Besonders ist auch, dass die Filme zeitlos wirken. Jedes moderne Auto, jede Hochhausfassade oder betonierte Straße wirkt wie ein Fremdkörper. Aber auch die Hauptfigur Arthur wirkt erst wie ein Sonderling in der Gesellschaft. In „Die Chimäre“ geht es um ebendiesen merkwürdigen jungen Mann namens Arthur (Josh O’Connor, aktuell auch in “Challengers“ auf der Leinwand zu sehen). Hier fährt er in einem abgewetzten Anzug in ein italienisches Dorf. Er fällt auf, wird beäugt und leise bewundert. Das ist irritierend, denn weder sein ungepflegtes Aussehen noch seine forsche Art tragen dazu bei.

Ein Ort mit vielen Gesichtern

Angekommen in dem kleinen Dorf scheint die Stimmung von Arthur schlecht zu sein. Da hilft auch der Freund nicht, der ihn abholen möchte. Arthur ist genervt, möchte mit niemandem reden und zieht sich in eine Wellblechhütte zurück. Worauf das hinauslaufen soll, weiß man auch nicht, denn der Film lässt sich erstmal Zeit. Er präsentiert verschiedene Orte und Menschen und langsam entsteht daraus ein zusammenhängendes Bild, ein Netz aus Geschichten. Die Aufnahmen sind dabei lang und detailliert und bilden eine ganze Welt im Kleinen ab. So bleiben die wunderschönen Malereien auf dem abblätternden Putz der Wände im Gedächtnis, die Nasen der Menschen, die vielen Gesichter des kleinen Ortes.

„Die Chimäre“ führt Arthur und sein italienisches Umfeld langsam ein. Eine Gruppe von Freunden, die sehr durchschnittlich aussehen, etwas frech, vor allem aber liebenswürdig sind und gerne gemeinsam feiern und trinken. Dann ist da die alte Opernsängerin Flora, die in einem Anwesen in der Nähe des Dorfes wohnt. Ihre vielen, allesamt rothaarigen Töchter und Enkelinnen scheinen sie unglaublich zu nerven. Arthur ist die einzige Gesellschaft, die sie erträgt, denn seine ehemalige Partnerin war ihre Lieblingstochter. Wo die abgeblieben ist? Auch unklar. Immer wieder sucht sie Arthur aber in seinen Träumen heim und hinterlässt einen roten Faden, dem er versucht zu folgen.

Bei Flora lebt Italia, die Gesangsunterricht nimmt und heimlich ihre Kinder im Haus versteckt, von denen aber nie jemand etwas sieht. Außer Arthur. Neben diesen schrägen aber spannenden Figuren gibt es noch viel mehr Arbeiter und alte Menschen. Gesichter, die allesamt normal aussehen, auch mal schiefe Zähne haben, große Nasen, graue Strähnen in den Haaren oder abstehende Ohren.

Die Grabräuber

Worum es aber vor allem geht, ist Arthurs Talent: Mit einer Wünschelrute kann er Schätze unter der Erde aufspüren. Diese Schätze befinden sich in alten etruskischen Gräbern, die von Arthur und seinen Freunden geöffnet und geplündert werden. Damit erübrigt sich auch die Frage danach, was die Freunde den ganzen Tag so machen. Sie verdienen ihr Geld als Grabräuber. Das erscheint nicht verwerflich, da sie so liebenswert sind. Erst als Italia, die sich immer besser mit Arthur zu verstehen scheint, entdeckt, was die Freundesgruppe treibt, gerät Arthur in einen moralischen Zwiespalt: Ist es verwerflich, Gräber zu öffnen? Ist das Diebstahl, wenn ja, wen bestiehlt man?

Das klingt nischig, verwirrend und läuft Gefahr, auszufransen. Doch der Film verliert seinen roten Faden nicht. Der findet sich in Arthurs Träumen wieder und stellt zufällig auch noch einen Rückbezug zu dem Antiken Mythos um Ariadne her, die Theseus im Labyrinth des Minotaurus das Leben rettet. Sie hinterlässt im Labyrinth einen roten Faden, durch den er dann hinausfindet. Der rote Faden also. Das zu entdecken macht Spaß.

Aber vielleicht noch etwas mehr zu dem Spaßfaktor, denn der ist sehr groß. Was Alice Rohrwacher vor allem macht, ist Kino, das lebensfroh ist. Das liegt an einem verblüffenden Plot von lieben Grabräubern, den fantastischen und surrealen Elementen wie der Wünschelrute und der Lebensfreude, die die Figuren transportieren. Manchmal wiederum verwandeln sich schreiende Gesichter in Fratzen, die an Tiere erinnern. Oder es wird ein Zeitraffer eingefügt, in dem die Figuren wie Playmobil-Männchen einen Hang hinunterrennen.

Die Freude am Geschichtenerzählen

Insgesamt ist die Erzählung trotzdem ruhig. Der Film lässt sich viel Zeit, die verschiedenen Plots zu entfalten, und das macht ihn meditativ. Vielleicht eine gute Abwechslung zu einem sonst trubeligen Großstadt-Alltag. Es ist beinahe wie ein erholsames Eintauchen in eine nostalgische und fantasievolle Welt, die einen aus der gegenwärtigen Schnelligkeit herausholt. Das liegt neben der Ruhe, der Zeit und dem Ort auch daran, dass der Film Politisches adressiert, ohne dabei penetrant zu sein. Es geht eher um die Freude am Geschichtenerzählen.

Klassismus, soziale Ungerechtigkeit, und Feminismus, das alles kommt trotzdem vor. Besonders deutlich verkörpert durch die Gruppe der Grabräuber, die vor allem Geld verdienen möchten und müssen. Oder durch Italia, die als alleinerziehende Mutter zweier Kinder in den Tag hinein lebt und mit anderen Frauen ein leerstehendes Haus besetzt. Das bleibt alles aber spaßig und macht den Film so angenehm.

„Die Chimäre“ hat alles, was Kino braucht, es geht um die Freude am Film. Das Schauen ist ein erholsames und wohltuendes Erlebnis, weil es zwar beruhigt, aber auch in einen Bann von 210 Minuten zieht und eindrücklich nachwirkt. Das liegt an einer unkonventionellen Geschichte, die aufwühlend voranschreitet und einige unerwartete Plot-Twists beinhaltet. Es ist ein Film, der die pure Welt im ländlichen Italien der 80er-Jahre erzählt, aber eben auch eine Reise in eine fantastische Welt vornimmt. Der Film ist vielleicht besonders gegenwärtig, weil er nichts mit der Gegenwart zu tun hat. Und das ist doch wundervoll!


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