Das Debüt Gelenke des Lichts von Emanuel Maess ist ein romantischer Bildungsroman. Ein ambivalentes Buch, dass die Spannung von Mythos und Moderne, Logos und Eros auslotet.  

Wenn nach den ersten Seiten ein Roman bereits sauer aufstößt, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder landet das Buch in der Ecke, unter den Stapel all der anderen ungelesenen Bücher; oder man kämpft sich durch. Hoffend das spontane Urteil zu revidieren – wenigstens sich an Stoff und Form zu gewöhnen.

Gelenke des Lichts, Erstlingswerk von Emanuel Maess, sogleich vertreten auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2019, ist so ein Roman. Selten ist seine Sprache in der deutschen Gegenwartsliteratur – affektiert, geschwollen, gespreizt: Das sind Attribuierungen, die einem bei Maess Prosa zunächst in den Sinn kommen. Da ist die Rede von einer „epiphanen Verliebtheit“, „sepukralkulturelle[r] Besonderheit“, „urtümlicher Gehaltenheit“ oder picknickende Frauen werden als „vor sich uns hinmalenden Schäfer-Pastorale mit Göttinnen“ beschrieben. Wer schreibt heutzutage so?

Der Roman als eine intellektuelle Reise

Emanuel Maess ist 1977 in Jena geboren, ehe er in Heidelberg, Wien und Oxford Politik-und Literaturwissenschaft studierte. In diesem Sinne könnte man Gelenke des Lichts durchaus als autobiographisch inspirierte Beschreibung eines intellektuellen Reife- und Reflexionsprozesses lesen.

Die Anlage von Gelenke des Lichts ist die des klassischen Bildungsromans: Der junge Ich-Erzähler, geboren in der thüringischen Provinz, nahe der innerdeutschen Grenze, Sohn eines Pfarrers, führen die Lebenswege aus der naturnahen Idylle der Kindheit. Sie führen ihn auf den Spuren großer Vorbilder in die Stadt der Romantik, Heidelberg, und nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin in die ehrfürchtigen und traditionsreichen Hallen der Universität von Oxford. 

Hier wie dort gibt der Erzähler sich den Wonnen der Kontemplation und der Hochkultur hin. Er verehrt die Musik Richard Wagners, parliert fließend Akademisch und hält sich lieber an Bücher, als an Partys und Ausschweifungen. Nun gibt es freilich keine wahre Bildung ohne eine Éducation sentimentale, wie der Geisteswissenschaftler weiß. Und so kein Bildungsroman, ohne Liebe, kein Ich ohne Angelika.

Die Engelsgleiche

Sie ist der Fixstern, den der Erzähler unablässig umkreist, dass omnipräsente Du seiner Rede. Schon seit Kindheitstagen ist sie da, erblickt während eines Urlaubs auf Usedom, „Du 9, ich 11“, eine „mit grünem Bast geschürzte Mänade“. Obwohl sie aus der gleichen Heimatregion stammen, verlaufen die Lebenswege Angelikas und ihres Verehrers gänzlich verschieden.

Während er die Treppen des Elfenbeinturms besteigt, bleibt sie in der Provinz und beginnt eine Ausbildung. Trotz seiner jugendlichen Schwärmerei und gelegentlich wechselseitiger Besuche, kommt es zu keiner ernsthaften Liebesbeziehung zwischen den Beiden. Im Gegenteil: zumeist scheint das Verhältnis unterkühlt zu sein. So fragt man sich, warum also diese jahrelange Obsession für Angelika? Weder scheint sie von besonderer Intelligenz, noch Schönheit zu sein. Geschweige denn, dass sie in Gelenke des Lichts ein nennenswertes Profil entwickelt. 

Dass die meiste Zeit des Romans über ferne Du der Angelika ist nicht viel mehr als ein Spiegel für das schreibende Ich, eine stumme Adressatin, aber wohl kaum eine Akteurin. Im wahrsten Sinne ihres Namens umgibt Angelika etwas Engelhaftes. Sie schwebt durch den Roman, ist präsent, aber nie zu fassen. Die hohen Lieder, die der Erzähler singt, verhallen in einem ätherischen Raum ohne reale Basis. Seine Liebe hat etwas erhöhendes, nicht weniger verklärendes, zumindest religiöses.  

Fortschreibung deutscher Romantik

Dass Maess in der Tradition der Deutschen Romantik steht, daraus macht er keinen Hehl. Anspielungen auf Jean Paul, Hölderlin, von Eichendorff, nicht zuletzt Nietzsche und Wagner, aber auch Goethe zieren den Text. Bei aller Konventionalität der chronologisch erzählten Handlung entfaltet sich doch, nach der ersten Skepsis Begeisterung für die poetisch dichte Sprache. Sie ist erfrischend unzeitgemäß (darüber hinaus ist der Autor erfreulich gebildet).

Dabei ist Maess kein neo-romantischer Epigone. Gezielt setzt er ironische Stiche, um seine hochfliegenden Gedanken, sogleich zu erden. Maess ist klug genug zu wissen, dass aus der Moderne kein Weg zurückführt, dass sie aber ohne Poesie und Metaphysik eine kalte Zeitepoche bliebe. 

So kontrastiert er häufiger seine romantisch mythischen Beschreibungen mit einer profanen Umkehrung: „Man hätte hier jederzeit Pan auf seiner Flöte hören können, wäre es eine Zeit der Hirten und nicht der Arbeiter und Bauern gewesen, die über zwei Urlaubswochen in den bröckelnden Strandvillen der Kaiserzeit unterkamen und ihrem nudistischen Badekommunismus nachgingen“, heißt es über den Urlaub auf Usedom. Bei einer Wanderung lässt er sich zu der Bemerkung hinreißen: „Während es unsere Generation, den Zeitungen nach, zu einem ganz anderen Berghain zog, hielten wir uns noch immer an das windüberkämmte, eisüberzogene Original“.

Ein romantischer, bildungsbürgerlicher Autor

Seine Ironie kann auch beißend werden. Etwa wenn Maess feststellt, dass das Englische zu verwässern drohe, denn obwohl oder weil es alle Welt verstände, bleibe nur noch eine rudimentärer Begriff der Sprache bestehen. Den postmodernen Universitätsjargon vergleicht er mit einem „Clan-Idiom“, dass das „esoterische Wissen der politisch-subkulturellen Geheimloge vor unbedarften Zugriff“ schütze.

Trotz seines bildungsbürgerlichen Aufstiegs hält der Erzähler also, soweit es überhaupt möglich ist, einen inneren Abstand zum akademischen Betrieb. Trotz allen Wissens, fehlt dem Erzähler ein praktischer Zugang zur Welt, die erst als in der Poesie anverwandte zu sich selbst und zu ihm kommt. 

Darin liegt auch der Reiz von Gelenke des Lichts. Maess Sprache, seine Bilder und Schachtelsätze ist zunächst ungewohnt, doch schon bald erstaunt man über seine Stilsicherheit. Es lässt sich nicht absprechen, dass Maess ein romantischer, auch bildungsbürgerlicher Autor ist und damit bewusst kokettiert. Man mag damit fremdeln, dass dieser Autor den Anspruch hat, einen neuen-alten Ton in die Gegenwartsliteratur zu bringen. Ist das gar reaktionär, lautet die berechtige Frage? Und es stimmt: Maess reflektiert kaum die Schattenseiten romantischer Ideengeschichte, die zentrale Frauenfigur Angelika bleibt blass.

Im Zentrum steht der altbekannte, solitäre, schmachtend weltfremde Mann. Das ist unzeitgemäß. Doch darin liegt gleichzeitig auch der Reiz des Romans, in dem er auf eine poetische Tradition rekurriert, die in der jüngeren Generation deutschsprachiger Autor*innen zu verblassen scheint. Der Roman braucht seine Zeit ehe er scheinen kann und belohnt doch mit einer seltenen, gleichwohl ambivalenten Lektüreerfahrung.


Emanuel Maess: Gelenke des Lichts
Wallstein Verlag 2019
254 Seiten, gebunden. 20,00€