Linus Giese und unser Autor haben einiges gemeinsam. Ein Unterschied zwischen ihnen ist jedoch, dass Giese ein Buch geschrieben hat: Über sein Leben als trans Mann.

Ich nahm das Buch mit gemischten Gefühlen in die Hände. Linus Giese betreibt seit 2011 einen Bücherblog und ist auf diversen sozialen Medien aktiv. Dementsprechend groß war auch der Rummel, der der Veröffentlichung vorausging. Andererseits ist es immer noch selten, dass trans Menschen ihre Geschichte in sogenannten Mainstream-Medien erzählen können. Es gilt also, einen Spagat zwischen Authentizität und Verständlichkeit zu schaffen. Meine Zweifel wichen schnell. Linus Giese gelingt es gut, mit seinem Buch sowohl andere trans Menschen als auch Leser*innen zu adressieren, die kaum Berührungspunkte mit der Thematik haben. 

Ein großer Pluspunkt der Autobiographie besteht darin, dass Giese chronologisches Erzählen fast konsequent verweigert. Nacherzählungen einer Kindheit können oft verklärend wirken und darauf lässt sich der Autor gar nicht erst ein. Dazu passt, dass er die Gesetzgebung in Deutschland kritisiert, die von trans Menschen einen sogenannten „Trans-Lebenslauf“ verlangt. Trans Personen stehen oft in der Beweispflicht, dass sie immer schon trans waren oder sich unwohl in ihrem Körper fühlten. Gegen solche starren, fremdbestimmenden Vorstellungen wehrt sich Linus Giese strikt. Verweise auf seine eigene Kindheit und Jugend erfolgen eklektisch in der assoziativ-thematisch gegliederten Erzähllinie.

So werden in dem Buch viele Punkte einer Transition abgearbeitet: Die ständigen Coming-outs in Privatleben und Beruf, Arzttermine, Hormontherapie, Beziehungen, Sexualität, Körperwahrnehmung. Fertig sein werde er wahrscheinlich nie, schreibt Giese. Auch ist sein Trans Sein kein vorübergehender Status, den er mit irgendeiner finalen Operation ablegen könne. Obwohl Gieses „neues Leben“ immer leichter und freier wird, ist er nicht fertig mit sich und der Welt. Das Buch scheint eher ein Zwischenbericht, als eine glattgebürstete Erfolgsgeschichte zu sein. Der Autor zeigt, dass eine Transition nicht alle Probleme löst. Intimität, Sexualität und Einsamkeit sind wiederkehrende Themen, die Giese bewusst sehr persönlich schildert. „Ich trage meine Geschichte ganz vorne auf der Zungenspitze“, schreibt er, und hofft, damit anderen trans Menschen helfen zu können.

Zwischen alltägliche Erlebnisse mischen sich niederschwellig formulierte Bildungsangebote an die Leser*innen. Linus Giese setzt seine Erfahrungen regelmäßig in größere gesellschaftliche Kontexte. Er spricht für sich und betont die Individualität seines Trans Seins. Gleichzeitig lässt er unterschiedliche Lebensrealitäten nicht außer Acht.  Sprachlich mitreißend wird es vor allem dann, wenn Giese statt geduldigen Erklärungen seine Gefühle sprechen lässt. 

„Ich möchte keinen Arbeitgeber, der mir ohne ein einziges gemeinsames Gespräch eine Kündigung schickt, in der ‚wir mögen dich als Linus‘ steht. Drauf geschissen.“ (S. 152)

Am stärksten wirkt die Verknüpfung aus persönlicher Erfahrung und politischem Appell in den Kapiteln zu transfeindlichem Hass, den Linus Giese im Netz und im Privatleben seit seinem öffentlichen Coming-out als trans Mann erfährt. Es ist absolut nachvollziehbar, dass der Autor seine öffentliche Aufklärungsarbeit regelmäßig hinterfragt. Dass dieses Buch nun veröffentlicht wurde, ist hoffentlich ein zweifaches Zugeständnis: Von Linus Giese, nicht aufzugeben und weiterhin sichtbar zu sein, und vom Literaturmarkt, sich solidarisch zu zeigen und Stimmen wie seiner Raum zu geben. 


Linus Giese:
„Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war.“
Rowohl Polaris (2020)
224 Seiten, Broschiert. 15,00€