SimRa sammelt Daten zu Beinahe-Unfällen

Ein Team der TU Berlin entwickelt eine App, um „Beinahe-Unfälle” zu protokollieren. Mit SimRa möchten die Wissenschaftler*innen Berlins Straßen sicherer machen. Ein studentischer Mitarbeiter gibt Einblicke

Fahrradfahren in Berlin ist an manchen Stellen ein gefährliches Unterfangen. Rücksichtslose Autofahrer*innen führen waghalsige Überholmanöver durch, oft kommt es an unübersichtlichen Kreuzungen zu Unfällen. Die aktuellen Zahlen des ADFC geben Anlass zur Sorge: 2016 gab es knapp 7.500 Unfälle mit beteiligten Radfahrern, wovon etwas mehr als die Hälfte von Radfahrer*innen mitverursacht wurden. Die Hauptursache: Benutzung der falschen Fahrbahn. Zum Vergleich: Autofahrer verursachten die meisten Unfälle durch Fehler beim Abbiegen. Um besonders gefährliche Stellen in der Stadt sichtbar werden zu lassen und Unfallursachen festzustellen, wurde das Projekt „SimRa: Sicherheit im Radverkehr” an der TU Berlin ins Leben gerufen. Mit einer Smartphone-App sollen die Daten der Radfahrer*innen erhoben werden. Mark Bauknecht wirkt als studentische Hilfskraft mit und gewährt uns im Gespräch exklusive Einblicke in das Projekt.

UnAuf: Wie kamt ihr für das Projekt ausgerechnet auf das Thema Radfahren in Berlin?

Mark Bauknecht: Ich denke Radfahren ist gerade in Großstädten ein immer schwierigeres Unterfangen, welches trotzdem gerade für Studierende eine gute Alternative zu anderen Verkehrsmittel bietet. Die Idee kam im Fachgebiet MCC auf, nachdem Prof. David Bermbach, Leiter des Fachgebietes, eines Morgens auf dem Weg zur Uni nahezuvon einem abbiegenden PKW abgeräumt wurde. Da er selbst das ganze Jahr mit dem Fahrrad unterwegs ist, wollte er gegen dieses Problem vorgehen. Das Ziel dabei ist, dass solche Beinahe-Unfälle, in denen oft einer der Verkehrsteilnehmer noch rechtzeitig reagieren kann, statistisch erhoben werden und so in der öffentlichen Diskussion künftig nicht mehr untergehen. Meiner Ansicht nach hat das ganze Projektteam nicht nur wissenschaftliches, sondern auch persönliches Interesse am Thema.

U: Und wie genau wollt ihr mit einer App die Sicherheit für Radfahrer*innen erhöhen?

MB: Ziel ist es, mithilfe der App eine Datenbasis zu generieren, die dazu dienen soll, verkehrstechnisch gefährliche Stellen zu finden und zu analysieren. Dazu werden in Großstädten wie Berlin allgegenwärtige Beinahe-Unfälle erfasst, um anschließend nicht nur Radfahrer an entsprechenden Orten warnen zu können, sondern die Daten auch Interessengruppen zugänglich zu machen, um diese in eine politische Diskussion für mehr Sicherheit einbringen zu können.

U: Wie genau funktioniert die App? Wie kann sie messen, ob eine Stelle unsicher ist?

MB: Die App ist sehr simpel gestaltet: Die Nutzer*innen öffnen SimRa und starten die Aufzeichnung kurz vor Fahrtbeginn. Während der Fahrt wird per GPS die Fahrtroute aufgezeichnet. Außerdem werden die Daten der Bewegungssensoren gespeichert. Nach der Fahrt beenden die Nutzer*innen die Aufzeichnung und die App analysiert die Fahrt. Es wird die Fahrtroute auf der Karte angezeigt, wobei Markierungen an den Stellen platziert werden, an denen die App mögliche Beinahe-Unfälle entdeckt hat. Die Nutzer*innen haben dann die Möglichkeit, diese Stellen mit Informationen anzureichern und die Fahrt hochzuladen. Glücklicherweise sind die meisten Punkte keine Beinahe-Unfälle. Daher ist der Ausgangswert, dass nichts passiert ist und User können diese Markierungen schlicht ignorieren. Der Bearbeitungsaufwand pro Fahrt beträgt ungefähr eine Minute.

Ereignisse können nach der Fahrt präzise eingeordnet und damit erhoben werden. Fotos: SimRa

U: Was sind „Beinahe-Unfälle” und wie können sie vermieden werden?

MB: Damit sind Unfälle gemeint, die im letzten Moment verhindert werden konnten, wenn beispielsweise einer der Verkehrsteilnehmenden noch bremsen oder ausweichen konnte. Am besten können sie durch aufmerksame Verkehrsteilnehmende, die sich an Regeln halten, vermieden werden. Oft sind aber auch unübersichtliche Kreuzungen oder Verkehrsführungen, Baustellen oder fehlende Radwege die eigentliche Ursache. Die Kategorien der Beinahe-Unfälle haben wir aus dem wissenschaftlichen Artikel “Predictors of the frequency and subjective experience of cycling near misses: findings from the first two years of the UK Near Miss Project” von Rachel Aldred und Anna Goodman: Zu dichtes Überholen, Ein- oder ausparkendes Fahrzeug, Beinahe-Abbiegeunfall, entgegenkommende Verkehrsteilnehmer, zu dichtes Auffahren, Beinahe-Dooring und Hindernissen ausweichen.

U: Muss ich als Nutzer*in mit der App interagieren und direktes Feedback geben oder funktioniert sie im Hintergrund?

MB: Die App muss vor der Fahrt geöffnet und die Aufzeichnung gestartet werden. Dann läuft die App während der Fahrt im Hintergrund. Nach der Fahrt wird die Aufzeichnung beendet und die Fahrt kann annotiert und hochgeladen werden. Dies ist jedoch auch zu einem späteren Zeitpunkt möglich. Dabei beträgt der Zeitaufwand pro Fahrt erfahrungsgemäß etwa eine Minute.

U: Habt ihr schon Ideen, wie man die App mit künstlicher Intelligenz weiterentwickeln könnte?

MB: Tatsächlich gibt es in dieser Richtung bereits Forschungsprojekte. Denkbar wäre mithilfe von Machine Learning, den Vorfall und die Brisanz dessen anhand der Aufzeichnungen automatisch kategorisieren zu lassen. Jedoch braucht man dazu in jedem Fall erst Trainingsdaten. Auch dabei kann unser Projekt helfen, da die gesammelten Datensätze am Ende des Projektes anonymisiert veröffentlicht werden. Eine weitere Möglichkeit wäre eine automatische Erkennung des Fahrtbeginns und Fahrtendes.

U: Kommen wir zurück zum Projekt. Wer genau seid ihr und was möchtet ihr erreichen?

MB: Wir sind vom Fachgebiet Mobile Cloud Computing an der TU Berlin und dem Einstein Center Digital Future. Das Ziel ist, unseren Teil beizutragen, um die Straßen etwas sicherer für Radfahrer zu machen. Initiator und Leiter des Projekts ist Prof. Dr. David Bermbach und zusätzlich werden wir von der TU Berlin als Citizen Science Projekt gefördert.

U: Welche Rolle spielt ihr als studentische Hilfskräfte und welche Backgrounds habt ihr?

MB: Als studentische Hilfskräfte sind meine Kollegin und ich voll im Team integriert und arbeiten überall mit. Am Anfang ging es dabei natürlich primär um das Programmieren und Testen der App. Nach Veröffentlichung der App hat sich unser Aufgabengebiet nochmal erweitert. Jetzt steht neben dem kontinuierlichen Verbessern der App auch weiteres, von Öffentlichkeitsarbeit über Datenschutz bis zu Feedback und Supportanfragen an. Meine Kollegin und ich studieren beide an der TU Berlin, sie schreibt derzeit an ihrer Masterarbeit im Fach Human Factors und ich mache meinen Bachelor in der Wirtschaftsinformatik.

Prof. Dr.-Ing. David Bermbach, Doktorand Ahmet-Serdar Karakaya und die studentischen Hilfskräfte Theresa Tratzmüller und Mark Bauknecht arbeiten gemeinsam an der Entwicklung von SimRa. Foto: privat

U: In welche Zeitphasen ist das Projekt eingeteilt und was kommt danach?

MB: Die erste Phase war sicherlich sehr technisch orientiert. Dabei ging es um das Planen und Programmieren der App, nach unserer Veröffentlichung im Google Play Store im März konnten wir die App im Mai auch im Apple Store veröffentlichen. Vor dem Release im Play Store hatten wir bereits eine Gruppe von Testnutzern, die uns nicht nur geholfen haben, die App zu verbessern und Bugs zu erkennen und auszubessern, sondern auch inhaltliches Feedback und Ideen eingebracht haben. Aktuell ist die App auf Berlin fokussiert, denkbar sind natürlich noch weitere Städte. Zudem ist dieses Jahr auch bereits eine erste Veröffentlichung der gesammelten Daten als Open Data geplant.

U: Also ist die App bereits frei verfügbar?

MB: Ja, SimRa ist sowohl für Android-, als auch für iOS-Geräte kostenlos verfügbar. Die Android-Version kann ganz normal über den Google Play Store heruntergeladen und aktualisiert werden. Wer Android ohne Googles Play Dienste benutzt, kann auch die APK direkt von unserer Projektseite herunterladen. Wir planen auch eine Veröffentlichung im FDroid Store. Die iOS-Version ist in Apples App Store verfügbar.

U: Wie viele Nutzer*innen braucht ihr, um signifikante Aussagen treffen zu können?

MB: Signifikante Aussagen können bereits bei kleineren Nutzerzahlen getroffen werden, daher ist unser erstes Ziel, 100 täglich aktive Nutzer*innen in Berlin zu haben. Langfristig wollen wir aber natürlich deutlich mehr Nutzer und vor allem Fahrten, die diese Nutzer aufzeichnen, annotieren und hochladen, analysieren. Genaue Zahlen zu nennen ist natürlich schwierig, aber 5000 Nutzer, die täglich jeweils 1-2 Fahrten hochladen, wären sicherlich ein sehr guter Wert. Bei 500.000 Fahrradfahrern alleine in Berlin ist dieses Ziel durchaus erreichbar. Aktuell haben wir ca. 400 Nutzer*innen, Tendenz steigend. Eine erste Analyse der Daten steht noch aus.

Für mehr Privatsphäre kann der Aufnahmestart verzögert werden. Fotos: SimRa

U: Habt ihr schon konkrete Vorstellungen, was ihr mit den gewonnenen Daten machen werdet? Bestehen Kontakte zur Berliner Politik?

MB: Ziel ist es natürlich, die Politik zu Veränderung zu bewegen. Durch das Veröffentlichen der Daten muss dies aber nicht durch uns als Entwickler stattfinden, sondern kann durch Interessengruppen stattfinden. Hierfür sind wir bereits in Kontakt mit ADFC und Changing Cities.

U: Zu guter Letzt noch eine Frage zum Thema Datenschutz. Wo werden die Bewegungsdaten gespeichert und wie stellt ihr deren Schutz sicher?

MB: Das Thema Datenschutz hatte vom Anfang der Entwicklung an eine hohe Priorität für uns, daher haben wir dazu unterschiedliche Maßnahmen getroffen. Auf der Android-App verwenden wir z.B. OpenStreetMap und nicht etwa andere proprietäre Kartendienste. Erst wenn die Nutzer*innen die annotierten Fahrten hochladen, landen die anonymisierten Daten bei uns und werden auf den Servern der Technischen Universität Berlin mit hohen Sicherheitsstandards gespeichert. Die Fahrtdaten selbst sind dabei gar nicht personenbezogen, da wir sie komplett anonymisiert erfassen. Das bedeutet, dass es unmöglich ist, anhand der Bewegungsdaten zu bestimmen, wem diese gehören. Wir sammeln ebenfalls demographische Daten der Nutzer*innen, die sie aber freiwillig in einer Maske eingeben können. Natürlich sind auch diese Daten nicht personenbezogen. Dabei geht es nur um sehr allgemeine Informationen wie z.B. Altersgruppe oder seit wie vielen Jahren man bereits Fahrrad fährt. Diese Daten sind notwendig, um statistische Aussagen über die gesammelten Daten machen zu können. Jedoch werden die demographischen Daten getrennt von den Bewegungsdaten gespeichert und können nicht zugeordnet werden.

U: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Fotos: SimRa