„Eine Theorie, die sich nur auf eine Dimension fokussiert, greift in der Regel zu kurz.“

Marcel Fratzscher über Herausforderungen im ökonomischen Lehrbetrieb, Ungleichheit in Deutschland und warum er Fan von Karl Popper ist. 

Sind die Wirtschaftswissenschaften zu einseitig? Viele Studierende der Wirtschaftswissenschaften wünschen sich einen Paradigmenwechsel, getrieben von einer größeren Theorienvielfalt und realistischeren Annahmen in den Modellen. Das vorherrschende Paradigma, die Neoklassik, dominiert die Lehre an deutschen Unis, während andere Denkschulen, wie z.B. der Keynesianismus, die Institutionenökonomik, die Ökologische Ökonomik oder die Verhaltensökonomik nur begrenzt oder gar nicht gelehrt werden.

Marcel Fratzscher ist nicht nur Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität, sondern arbeitet als Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) daran, wirtschaftliche Theorien mit der Realität in Einklang zu bringen. Nicht immer entsprechen seine wirtschaftspolitischen Positionen der mehrheitlichen Ansicht in Deutschland. Er prangert etwa die deutsche „Sparobsession“ an und spricht sich für verstärkte staatliche Investitionen vor allem in der Bildung aus, um mehr Chancengleichheit zu schaffen und so das Armutsproblem in Deutschland anzugehen.

UnAuf: In Ihrer Position als Präsident des DIW vertreten Sie viele typischerweise als keynesianisch betrachtete Positionen, beispielsweise eine expansive Geldpolitik als Reaktion auf Krisen. Würden Sie sagen, dass Sie vor allem von Keynes beeinflusst sind?

Marcel Fratzscher: Ehrlich gesagt tue ich mich unglaublich schwer mit der Dogmengeschichte. Für mich mutet das fast nach einer religiösen Sekte an, wenn Leute sagen, dass sie an die Neoklassik, den Neokeynesianismus oder den Liberalismus glauben. Ich bin ein großer Fan Karl Poppers, der gesagt hat, dass man zwar eine Theorie aufstellen könne, diese aber dann nur so lange gültig sei, wie sie auch empirisch belegt oder widerlegt ist. Ich verstehe mich als einen Wissenschaftler, dessen Theorien und Argumente vor allem von Fakten, von der Wahrheit und von der Realität getrieben werden. Ein Problem, das ich mit der Wirtschaftswissenschaft, so wie sie in Deutschland praktiziert wird, habe, ist, dass sie zu häufig theoriegetrieben ist. Leute haben eine tolle Theorie und sagen: „So sehe ich die Welt“ und versuchen dann, sich die Welt so zurechtzuzimmern, dass ihre Theorie belegt wird. Dabei sind sie sehr selektiv. Ich tue mich schwer damit, zu sagen, ich glaube das eine oder das andere. Eine sinnvolle Unterscheidung zwischen Keynesianismus und dem Neoklassischen ist die zwischen Angebot und Nachfrage, Konsumierenden und Unternehmen, Investition und Konsum, Staat und Markt. Es gibt immer diese Gegenpole und eigentlich ist fast immer die Antwort: Sie brauchen beides. Eine Theorie, die sich nur auf eine Dimension fokussiert, greift in der Regel zu kurz.

*Finden Sie nicht, dass in der Lehre der Fokus eher auf der Neoklassik liegt und, dass diese den Studenten als „die Wahrheit“ vermittelt wird?

Fratzscher: Es hängt davon ab, wer unterrichtet und wie unterrichtet wird. Ich würde mir eine Lehre wünschen, die erstmal mit den Fakten und Tatsachen anfängt und dann daraus Theorien ableitet. Ökonomische Theorie ist wie Kartographie, sie ist eine Vereinfachung der Realität. Vereinfachungen der Realität sind häufig hilfreich, weil sie helfen, sich auf die Essenz zu konzentrieren. Aber es ist immer noch eine Vereinfachung. So gesehen sind Theorien schon wichtig, weil sie helfen, komplexe Dinge auf die Kernpunkte herunterzubrechen, aber ich gebe Ihnen Recht, dass eine gute Lehre immer auch ausgewogen sein muss. Ich würde mir wünschen, dass die Lehre als Anfangspunkt mehr die empirischen Fakten, Zahlen und Tatsachen nimmt und dann erst die Theorie darauf aufbaut. Dann wird man viel von der Kritik ansprechen können, dass die Lehre zu einseitig ist.

In den herkömmlichen Modellen werden viele vereinfachende Annahmen getroffen, wie etwa komplette Rationalität, vollständige Information oder das Ziel der Nutzenmaximierung. Glauben Sie, dass diese Modelle heute noch geeignet sind, um einer immer komplexer werdenden Welt gerecht zu werden?

Fratzscher: Die Theorie der rationalen Erwartungen von Robert Lucas aus den 70er Jahren hat schon einen wichtigen Beitrag geleistet. Meine Kritik daran ist eigentlich, dass die Wirtschaftswissenschaft heute schon viel weiter ist. Wir wissen durch die Verhaltensökonomie, dass Menschen eben nicht rational handeln, und können diese Annahmen realistischer machen. Zu häufig sind wir Forschende zu langsam, die neuen Erkenntnisse in unser Denken zu integrieren. Leute halten zu lange an ihren Theorien fest und gestehen ungern ein, dass sie auch mal falsch liegen. Ich glaube, es liegt gar nicht so sehr an der Wirtschaftswissenschaft, die sich fortentwickelt und die viel gelernt hat. Es gibt viel gute Forschung, die genau diese Annahmen, die häufig in den Modellen falsch sind, adressiert und verbessert. Dieser Kritikpunkt gilt allgemein in der Lehre für die Wirtschaftswissenschaften.

*Die Forschung ist also viel weiter als die Lehre. Also könnten wir die Lehre schon verändern, da wir viele wichtige Erkenntnisse schon haben?

Fratzscher: Ja, auf jeden Fall. Das Anpassen der Lehre ist nicht leicht. Wenn Sie sich mal die Textbücher angucken, die häufig für die Standardvorlesungen im Bachelor verwendet werden: Viele davon sind 15 bis 20 Jahre alt. Sie sind mal upgedated worden, sind aber -meiner Ansicht nach- nicht wirklich auf der Höhe der Zeit.

*Der fehlende Pluralismus in der VWL geht ja auf die Lehre zurück.  Was vermuten Sie, ist der Grund dafür, dass fast alle Lehrstühle an Universitäten mit neoklassischen Ökonomen besetzt sind?

Fratzscher: Ich weiß nicht, ob sie neoklassische Ökonominnen und Ökonomen sind. Wir an der Humboldt Uni sind da schon relativ gut und weniger makroökonomisch und mehr mikroökonomisch tätig. Ich glaube das Problem ist wirklich, dass viele sehr pfadabhängig sind in ihrer Forschung und sehr stark auf dem aufbauen, was sie schon immer gemacht haben. Sich komplett zu ändern, das ist nicht leicht. Ich glaube schon, dass wir einen Paradigmenwechsel brauchen, indem wir viele der Annahmen und Modelle hinterfragen, aber das erfordert sehr viel Selbstkritik und vielleicht auch das Eingeständnis, dass man ein Teil seiner Karriere auf Forschung basiert hat, die heute nicht mehr wirklich zeitgemäß ist. Forschende gestehen genauso ungern Fehler ein wie jeder andere auch. Ich bin optimistisch, es ist eine Frage der Zeit. Ich würde mir auch wünschen, dass wir in Deutschland mehr auf die angelsächsischen Länder schauen und uns öffnen gegenüber Lehre und Forschung aus dem Ausland. Mir fällt immer wieder auf, dass wir in der deutschen Wissenschaft allgemein häufig anders denken, als das der globale Konsens ist: Sei es bei der Geldpolitik, sei es bei der Fiskalpolitik, sei es wie Finanzkrisen entstehen.

*Und wie kann man das erreichen?

Fratzscher: Indem man mehr international rekrutiert, indem man mehr kritische Debatten hat über Stärken und Schwächen, indem man sich aus seinem Elfenbeinturm herausbewegt. Forschende, die nicht nur im Elfenbeinturm sind, ernten dafür sehr viel Kritik. Die Arbeit des DIW Berlin ist es, die Wissenschaft mit der Realität zu verbinden und die Übersetzung zu machen zwischen Wissenschaft und Gesellschaftspolitik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, also das, was für die Gesellschaft relevant ist. Das heißt, häufig Kompromisse einzugehen und Position zu beziehen. Damit macht man sich natürlich angreifbar. Aber genau das muss die Wirtschaftswissenschaft gerade in Deutschland tun- sich mehr in die öffentliche Debatte begeben und zu sehen: Welche Dinge versteht man nicht, wo lag man vielleicht in der Vergangenheit falsch, wo kann man lernen?

Sie sagen, dass noch mehr staatliche Umverteilung das Armutsproblem in Deutschland nicht lösen wird. Was ist ihr Ansatz?

Fratzscher: Ungleichheit ist ein Problem in Deutschland. Sie ist kein Resultat einer funktionierenden Marktwirtschaft. Deshalb kann man es auch nicht mit mehr Umverteilung lösen. Wenn Sie einem 35-jährigen Hartz-IV-Empfänger sagen: Regen Sie sich doch nicht so auf, Sie kriegen doch Hartz-IV, dann werden die meisten Hartz-IV-Empfänger sagen: Ich möchte eine Chance haben, ich möchte eine gute Arbeit haben, ich möchte etwas tun, wo ich mit der eigenen Hände Arbeit für mich sorgen kann. Das ist das Ideal der sozialen Marktwirtschaft. Nicht dass der Sozialstaat die Leute ruhigstellt, sondern dass er den Menschen eine Chance gibt teilzuhaben: am wirtschaftlichen Leben durch gute Arbeit, die auch ordentlich entlohnt wird, am gesellschaftlichen, am sozialen, am politischen Leben.

Welche Maßnahmen sollten stattdessen unternommen werden?

Fratzscher: Ich sehe den Schlüssel vor allem darin, mehr Chancengleichheit zu schaffen. Da gibt es verschiedene Instrumente. Ganz prominent würde ich das Lebenschancenerbe nennen: Die Idee, dass jeder junge Mensch nach dem ersten großen Bildungsabschluss ein Konto bekommt mit ungefähr zwanzigtausend Euro und darüber frei entscheiden kann, wie und wann es genutzt wird. Nicht um damit in den Urlaub zu fahren, sondern für Fortbildung, für Qualifizierung. Wenn sie sich mal selbstständig machen wollen, wenn sie ein Risiko eingehen wollen, für Pflege von Familienangehörigen oder für soziale Zwecke. Also für Dinge, die einen Wert für die Gesellschaft haben. Das ist ein konkretes Beispiel, das mir sehr am Herzen liegt, weil es Menschen Eigenverantwortung gibt, für sich selber zu entscheiden und ihr eigenes Leben zu gestalten. Klar muss der Staat umverteilen, aber Umverteilung kann mangelnde Chancengleichheit nicht ausgleichen.

Investitionen sind also der Schlüssel zur Abschaffung von Armut. Sind Sie auch gegenüber der herkömmlichen Entwicklungszusammenarbeit zu bevorzugen?

Fratzscher: Nur ein kleiner Bruchteil der Gelder kommt tatsächlich dort an, wo sie wirklich benötigt werden, nämlich bei den Menschen. Hilfreich sind technische Zusammenarbeit, Investitionen und Freihandel, auch wenn der bei vielen Menschen als schlecht wahrgenommen wird. Die Märkte für landwirtschaftliche Produkte in Europa für Schwellenländer zu öffnen, würde den Ländern enorm helfen. Weil sie da, wo sie einen komparativen Vorteil haben, nämlich in arbeitsintensiven Prozessen in der Landwirtschaft, mehr erzielen könnten, mehr Geld verdienen könnten, moderner werden könnten. Also Investitionen und Einbezug in die internationalen Volkswirtschaften, das wären sicherlich Prioritäten.

Warum haben Investitionen in der deutschen Politik trotz niedriger Zinsen und beträchtlicher Haushaltsüberschüsse einen so geringen Stellenwert?

Fratzscher: Das Problem ist vielschichtig. Zum einen wird die Hälfte der öffentlichen Investitionen von Kommunen getätigt. 30 Prozent der Kommunen in Deutschland sind überschuldet, sie haben also gar nicht die finanziellen Mittel, um zu investieren. Außerdem haben viele Kommunen und Länder auch Personal abgebaut. Obwohl der Bund den Kommunen fast sieben Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hat, werden diese Gelder kaum abgerufen, weil die Kapazitäten fehlen. Das zweite Problem ist, dass falsche Prioritäten gesetzt wurden, auch beim Bund. Die Prioritäten waren, die Sozialausgaben zu erhöhen, die Rentenreform der Großen Koalition ist ein Beispiel. Das sind zehn Milliarden Euro im Jahr für die Rente mit 63, Mütterrente. Das ist schön für die Menschen, die davon profitieren. Das sind aber meistens nicht die Menschen, die die Hilfe am meisten benötigen. Das heißt auch, dass diese zehn Milliarden dann nicht verfügbar sind für Investitionen in Schulen, Bildung oder digitale Infrastruktur.

*Ist es legitim, Schulden aufzunehmen, um in produktive Bereiche wie Bildung zu investieren, die sich langfristig auszahlen?

Fratzscher: Schulden sind per se erstmal nichts Schlimmes. Die Frage ist immer: Wofür machen Sie Schulden? Wenn ein Staat, ein Bundesland, eine Kommune Schulden macht, um in die Menschen zu investieren, um ein gutes Bildungssystem zu schaffen, dann wissen wir auch ökonomisch gesehen, dass es eine große fiskalische Rendite gibt. Sprich, für jeden Euro den man in Bildung steckt, kommt langfristig mehr als ein Euro zurück. Wenn Menschen produktiver werden, mehr und bessere Arbeit finden, dann zahlen sie natürlich auch mehr Steuern, d.h. der Staat kriegt sogar mehr zurück. Deutschland hat immer diese Obsession mit Sparen und Schulden. Weder ist Sparen immer richtig, noch sind Schulden immer falsch. Die Frage ist, wofür das Geld ausgegeben wird. Gleichzeitig muss man sagen, dass in der jetzigen sehr guten wirtschaftlichen Lage, wo die Überschüsse riesig sind (der Staat hat über 30 Milliarden Euro Überschüsse pro Jahr) eigentlich genug Geld da ist, also neue Schulden nicht notwendig sind.

Was ist im wirtschaftspolitischen Bereich möglich, um der europäischen Idee den dringend benötigten Schub nach vorne zu verleihen?

Fratzscher: Erst einmal ist es dringend notwendig, Europa zu reformieren. Europa und auch der Euro funktionieren nicht so, wie sie funktionieren sollten. Es wurden einige Reformen gemacht, aber noch nicht genug. Ich sehe die Notwendigkeit, eine Balance zu finden: auf der einen Seite die Subsidiarität. Das heißt, den Menschen auf regionaler Ebene, wann immer möglich, wieder mehr Verantwortung zurückzugeben, sodass Kommunen wieder mehr Möglichkeiten haben, über ihre Bildung zu entscheiden, wo sie ihr Geld ausgeben wollen. Gleichzeitig muss in wichtigen Bereichen mehr zentralisiert werden. Außenpolitik, Sicherheitspolitik sind zwei typische Bereiche, wo es überhaupt keinen Sinn macht, dass jedes Land eigene Militärausgaben tätigt und eine eigene Außenpolitik macht. Das gleiche gilt für manche Bereiche in der Wirtschaftspolitik, z.B. das Finanzsystem: Es gibt eigentlich kein nationales Finanzsystem mehr und nur nationale Banken. Das ist mittlerweile alles europäisch oder global. Deshalb braucht man da eine Vereinigung der Banken und eine Kapitalmarktunion. Das sind zwei wichtige Elemente, damit Risiken reduziert werden. Es braucht auch eine bessere Koordinierung von makroökonomischer Politik. Uns Deutschen liegt immer sehr am Herzen, dass die gemeinsamen Regeln eingehalten werden. Man sollte gute gemeinsame Regeln schaffen, die Sinn machen, aber da sind wir im Augenblick noch weit davon entfernt. Im Großen und Ganzen bin ich fest davon überzeugt, dass Europa Deutschland einen riesigen Nutzen gebracht hat und dass wir auch nicht alles ändern müssen. Wir brauchen keine Vereinigte Staaten von Europa, wir brauchen keine politische Union. Wir brauchen in einigen Bereichen mehr Koordinierung zusammen mit mehr Subsidiarität und dann bin ich eigentlich optimistisch, dass Europa auf einem guten Weg ist.

Glauben Sie, dass dieses Ziel realistisch ist, da viele europäische Länder unterschiedliche Positionen in wichtigen Bereichen haben?

Fratzscher: Ich bin hoffungsvoll, weil die Voraussetzungen nicht besser sein könnten als jetzt. Es gibt einen neuen französischen Präsidenten, der sich ganz klar für Europa ausgesprochen hat, der eine Vision für Europa vorgelegt hat. Ich würde mir jetzt wünschen, dass es bald eine neue Bundesregierung gibt, die handlungsfähig ist, die ihre eigene Vision präsentiert. Ich bin hoffnungsvoll, dass sich bald etwas tut. Ich denke, alle haben erkannt, die europäische Krise ist noch nicht überwunden, es besteht der dringende Bedarf an noch mehr Reformen und ich hoffe, dass die neue Bundesregierung das wirklich ernst nimmt.

 

Das Gespräch führte Manon Schuegraf für die UnAufgefordert.