Geschrieben von Adrienn Jurkovics und Leonard Wolckenhaar

– Ungarn, 22. Oktober 2011 –

„Amerikanische Menschenrechtsaktivisten rauschen hier an und meinen allen erzählen zu können, wie man mit den Roma umzugehen hat“, polemisierten Andrássy-Studenten im unauf-Interview. Sie forderten mehr „Innensicht“ auf ungarische Probleme. Die unauf machte sich daraufhin auf die Suche nach Bürgerrechtlern mit „Innensicht“ und hat die Budapesterin Erzsébet Mohácsi getroffen, Vorsitzende der NGO „Chance for Children Foundation.“

Die CFCF führt den juristischen Kampf um die gesetzlich vorgeschriebene Gleichberechtigung der Roma im Bildungsbereich – denn der Staat selbst kümmert sich darum kaum. 2005 wurden in weniger als 200 der 3.000 ungarischen Schulen die Roma-Kinder gemeinsam mit den anderen Kindern unterrichtet. Von den 10 Millionen Einwohnern Ungarns sind über 600.000 Angehörige der Roma-Minderheit, fast alle haben die ungarische Staatsbürgerschaft. Immer wieder ist das Thema „Roma in Ungarn“ mit traurigen Schlagzeilen auch in der deutschen Presse zu finden. Zuletzt sorgte das Dorf Gyöngyöspata für internationale Aufmerksamkeit negativster Art: Der dortige Bürgermeister rief die rechtsradikale Bürgerwehr anstelle der Polizei zu Hilfe, um auf terrorisierende Weise zu verhindern, dass der angebliche „Zigeunerterror eine Bürgerkriegssituation erzeugt.“ Im UnAuf-Interview schildert Frau Mohácsi nun aus den Erfahrungen ihrer Arbeit eine andere Sicht auf die Lage der Roma in Ungarn und Europa. Ein Wort ist immer wieder laut und deutlich zu verstehen, schon bevor unsere Begleiterin Adrienn vom Germanistischen Magazin „GeMa“ in Szeged den engagierten Vortrag ins Deutsche übersetzt: „Katasztrófa!“

unauf: Frau Mohácsi, wie kommt es, dass so wenige Romakinder gemeinsam mit den anderen ungarischen Kindern unterrichtet werden?

Mohácsi: In größeren Gemeinden gibt es zum Beispiel Schulen in den Romavierteln, die werden dann nur von Romakindern besucht. In kleineren Dorfschulen wird mit unterschiedlichen Gebäuden segregiert. Oder die Roma werden im Erdgeschoss in eigenen Klassen unterrichtet, die anderen Kinder in der ersten Etage. Besonders muss ich aber ein Verfahren hervorheben: In der gesamten EU gehen etwa ein bis zwei Prozent der Kinder auf eine Sonderschule, in Ungarn sind es sieben Prozent – und das sind fast alles Romakinder. Ein Drittel der schulpflichtigen Roma besucht eine Sonderschule. Und das liegt daran, dass sie häufig einfach am Anfang ihrer Schullaufbahn als sonderschulbedürftig eingestuft werden – dann kann man sie abschieben, um den Eltern der anderen Kinder ihre Anwesenheit in deren Klassen nicht zuzumuten. Für die Aufstiegschancen dieser Romakinder bedeutet das natürlich das endgültige Aus schon in jüngsten Jahren.

Können Lehrer denn einfach so entscheiden, dass Kinder auf die Sonderschule müssen?

Eigentlich ist es ein umfangreicheres Verfahren, in das auch wissenschaftliche Gutachter eingebunden sind. In den zuletzt vor Gericht verhandelten Fällen stellte sich jedoch heraus, dass sie die Formulare einfach ausgefüllt hatten, ohne die Kinder wirklich zu testen. Diesen Kindern wurde nun ein Entschädigungsgeld zugesprochen, aber was ist das schon? Nur ein Drittel der Romakinder besucht eine gemischte Schule, das letzte Drittel schließlich die segregierten Schulen. Man kann also sagen, dass bei zwei Drittel der Roma schon durch die Schule die Arbeitslosigkeit vorprogrammiert ist. In den Sonderschulen und den segregierten Schulen fehlt es am Nötigsten, an Ausstattung, Computern, einer guten Lernumgebung. Diesen Roma bleibt später nichts anderes übrig als die Abhängigkeit von der Sozialhilfe. Dies wiederum bestätigt die Vorurteile der meisten Ungarn, dass Roma auf Staatskosten leben und nicht arbeiten gehen. Es ist ein Teufelskreis. Und den Kindern fehlt es natürlich an Vorbildern, die zeigen, dass man morgens zur Arbeit oder in die Schule geht. Noch dazu motiviert es die Kinder natürlich nicht, wenn sie in der Schule ausgesondert, benachteiligt und geschnitten werden. Sie sehen, es bedürfte sehr umfassender langfristiger Prozesse, die von der Regierung ausgehen oder unterstützt werden müssten, um wirklich etwas zu ändern.

Was ist das Problem daran, einfach alle Kinder zusammen zu unterrichten?

Natürlich gibt es Schwierigkeiten, wenn Kinder aus unterschiedlichen sozialen Umgebungen in der Klasse nebeneinander sitzen. Die einen Kinder haben vielleicht die Möglichkeit regelmäßig zu duschen und ein vollwertiges Frühstück mitzubringen – gerade die Romakinder aber häufig nicht, da die meisten von ihnen aus einem armen Umfeld stammen. Viele Eltern drohen den Schulen, dass sie ihre Kinder abmelden und woanders hingeben, wenn sie mit Romakindern zusammen unterrichtet würden. Das Problem ist nicht allein ein ethnisches, sondern vor allem ein soziales.

Ist eine solche Trennung der Schüler denn überhaupt erlaubt?

Seit 2004 gibt es in Ungarn das Antidiskriminierungsgesetz. Es verbietet die schulische Segregation. Durch das Gesetz wurde zivilgesellschaftlichen Organisationen wie unserer die Möglichkeit eröffnet, juristisch gegen Fälle von Segregation vorzugehen. Zuvor durften das nur die Eltern selbst tun. Unsere Organisation ist die einzige, die dieses Thema in Ungarn vertritt, in unserem Büro arbeiten fünf Leute. Wir finden das Gesetz an sich sehr gut, doch kümmert der Staat sich leider nicht um Umsetzung und Kontrolle. Es ist auch ein Ziel unserer Vereinigung, dass sich das endlich ändert.

Unternimmt die Regierung gar nichts?

Doch, schon seit 2001 bietet sie Schulen Geld an, wenn sie die Segregation beseitigen. Die Verteilung und Auszahlung der Mittel obliegt allerdings den Bürgermeistern in den Gemeinden. Durch diese Regelung wird das Regierungsprogramm als Täuschungstaktik entlarvt, denn es ist klar, dass die Bürgermeister im Interesse ihrer Wiederwahl dem Willen der Eltern folgen – und nichts für ein Ende der Segregation tun.

Welche Erfolge hat CFCF schon erzielt?

Seit 2004 haben wir ungefähr zehn Fälle vor Gericht gebracht. Gerichtsverfahren in Ungarn dauern sehr lang. Jedes Verfahren haben wir gewonnen, denn das Gesetz ist eindeutig! In manchen Städten ging es auch ohne Verfahren. Szeged haben wir mit der Drohung, dort aktiv zu werden, so erschreckt, dass die Stadt von sich aus die Roma-Schule schloss.

Stimmt es nicht, dass Viktor Orbán endlich einmal ein Politiker ist, der das Romaproblem anpackt?

Die neue Regierung ist eine Katastrophe! Sie versuchen das Gesetz und das EU-Recht zu ignorieren, oder zumindest jede mögliche Hintertür zu finden. Orbáns Bemühen um die Roma-Integration ist bloße Rhetorik. Zum Beispiel gibt er öffentliche Schulen zurück an die Kirche. Für die Kirche gilt das Antidiskriminierungsgesetz nicht. Und was hat sie dann bereits getan? Eine separate Roma-Schule eröffnet!

Aber zumindest macht Viktor Orbán die Schwierigkeiten im Zusammenleben zwischen Roma und den restlichen Ungarn doch offen zum Thema.

Orbán spricht über das Roma-Problem, ohne es wirklich lösen zu wollen, um von den massiven Problemen des Landes und seiner Regierungspolitik abzulenken. Dabei zeigt sich eine Verknüpfung zu den Umwälzungen in der Medienlandschaft, die auch mit der konservativen Wende in Ungarn zusammenhängen: Die Nachrichten bringen fast nur noch „Crime“. Man erfährt, wo etwas gestohlen wurde, ob es eine Schlägerei oder einen Mord gab. Aber inhaltlich erfahren wir nichts über die Probleme und Lösungsmöglichkeiten. Es wäre für unsere Organisation inzwischen einfacher, in eine deutsche Sendung zu kommen als in eine ungarische.

Können Sie erfolgreich mit der Selbstverwaltung der Roma zusammenarbeiten oder stimmt der Vorwurf, diese sei nur eine Marionette der Fidesz-Partei?

Der Sprecher der Roma-Vertretung, Flórián Farkas, beteuert gerne, wie wichtig er unsere Anliegen findet. Seit Monaten jedoch heißt es von ihm stets, er habe keine Zeit, mit uns zu sprechen. Es ist unmöglich, mit ihm in ein ernsthaftes Gespräch zu kommen. Im von Farkas gelobten neuen Sechsergremium zur Koordination von Roma-Fragen wurden, trotz unserer Bewerbung, nur Organisationen beteiligt, die sich für eine Segregation in den Schulen aussprechen.

Hat die Segregation denn gar keine Vorteile?

Sie hat vielleicht gewisse finanzielle Vorteile und bietet kürzere Wege, wenn z.B. Schulen in nur von Roma bewohnten Gebieten liegen und dort auch nur Roma unterrichtet werden. Es gibt jedoch auch den Fall, dass eine bereits geschlossene Roma-Schule nach vier Jahren wiedereröffnet wurde. In diesen vier Jahren hatten sich die Roma-Kinder daran gewöhnt, in die Stadt zu fahren und aus ihrer gewohnten Lebensumgebung herauszukommen. Das wird durch Segregation kaputtgemacht.

Immer wieder wird vorgebracht, es gebe unüberbrückbare kulturelle Unterschiede zwischen den Roma und dem Rest der Bevölkerung. Stimmt das nicht?

Es gibt in Ungarn noch 13 weitere ethnische Minderheiten – und alle unterscheiden sich in diesem oder jenem Aspekt! Kulturelle Besonderheiten können und sollten im Unterricht gemeinsam betrachtet und besprochen werden.

Reicht denn Gleichberechtigung in der Bildung als gutes Programm aus?

Nein, zum Beispiel müssen auch sinnvolle Arbeitsplätze vorhanden sein. Vor der Wahl hat Orbán eine Million Arbeitsplätze versprochen. Daraus wurden sinnlose Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, bei denen Arbeitslose für den unheimlich niedrigen Lohn von 20.000 Forint vier Stunden am Tag unnütze Tätigkeiten verrichten.

Sehen Sie positive Ansätze in der europäischen Roma-Strategie, die dieses Jahr während der Ratspräsidentschaft Ungarns verabschiedet wurde?

Ach, diese Strategie ist nur ein absolutes Minimalprogramm, das viel zu allgemein gehalten ist. So soll die Abiturientenquote unter den Roma bis 2020 irgendwie um 10% angehoben werden. Und die Regierung wird sowieso nichts tun.

Was sollten die EU oder die Länder Westeuropas tun, um die Integration der Roma in Osteuropa zu unterstützen?

Schauen Sie mal nach Frankreich oder Italien: Vielleicht sollten solche Länder als erstes selbst mit der Verfolgung und Ausweisung von Sinti und Roma aufhören.

Vielen Dank für das Gespräch!

Mehr zum Thema:

 „EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020“

 Meinungsfreudige Sonderseite der deutschsprachigen Zeitung „Pester Lloyd“ zum Thema „Roma in Ungarn