Nach dem Mauerfall wurde die größte Uni der DDR trotz massiven Widerspruchs radikal umstrukturiert. In der Humboldt-Universität erinnert nur noch wenig an ihr Ostberliner Erbe. Die Unileitung findet das alles ganz „exzellent“. Erinnerungen an einen gescheiterten Protest

Nach der Wende war das Studium vieler Ostberliner Student*innen plötzlich nichts mehr wert. 1991 entlud sich ihr Ärger in einem Protestmarsch nach Leipzig. Auf den Plakaten stand: „Wessis und Ossis haben die BRD nur unterschiedlich interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Das Programm der Westberliner Regierung für die Humboldt-Uni, ehemals die größte Universität der DDR, lautete aber: Erneuerung, Anpassung und Abwicklung.

Nach dem 9. November 1989 änderte sich zunächst nicht viel im Ostberliner Unibetrieb. Das Semester ging weiter: Die Wende machte sich nur anhand verringerter Studierendenzahlen bemerkbar. Viele zog es an die Freie Universität, die vorher im unerreichbaren Westen lag. Erst 1990 ging die Umstrukturierung richtig los, mit einer neuen Regierung und dem Projekt „Wiedervereinigung“, das vor allem die Assimilation des Ostens in den Westen meinte.

Besonders hart bekam das die HU zu spüren. Unter Wissenschafts- und Forschungssenator Manfred Erhardt wurde die Bildungslandschaft Ostberlins schnell unter Kontrolle der Westberliner Politik gebracht. Die HU passte man als einzige Ost-Universität sofort an das Westberliner Hochschulrahmengesetz an, während in den neuen Bundesländern ganz neue Hochschulgesetze geschrieben wurden.

Die Neugestaltung ging weit über das Ausmaß von Reformen wie Bologna hinaus. Als ideologisch „besonders belastete Fächer“ wurden Philosophie, Wirtschaft und Geschichte komplett umgekrempelt. Der Journalist Ulrich Miksch hat 1990 sein Philosophiestudium an der HU aufgenommen, mitten im Umschwung und inmitten der ersten Protestwellen.

„Durch ihre Proteste hatten die Studierenden keine wirkliche Änderung erreicht. Das Einzige, was im Hochschulrahmengesetz umgeschrieben wurde, war der Satz ‚Es gibt zwei Berliner Universitäten‘. Denn nach der Wende waren es drei“, sagt Miksch.

Wer Tierarzt werden wollte, konnte das nur noch im Westen

Der große Umbruch machte sich für die meisten, genau wie bei Miksch, zuerst im Lehrplan bemerkbar. An der HU fiel das Fach Marxismus/Leninismus weg, Sport war kein Pflichtfach mehr, Russisch für alle wurde abgeschafft. Danach erst nahm der Abwicklungsprozess volle Fahrt auf. Westberlin stellte Forderungen: Staatstragende Fachbereiche wie Rechts-, Erziehungs-, und Wirtschaftswissenschaften mussten umstrukturiert, die SED- und stasibelasteten Professor*innen ausgetauscht, die Beschäftigungsverhältnisse der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen befristet werden. Verträge wurden ungültig, mit dem Ziel, Stellen neu ausschreiben zu können. Alte Mitarbeiter*innen sollten sich in Konkurrenz mit Wissenschaftler*innen aus der ganzen Welt neu auf ihre alten Stellen bewerben.

Im Senat war man sich zu Beginn der Neunziger einig, dass Berlin sich eigentlich keine drei Universitäten (HU, FU, TU) mehr leisten konnte. Deswegen begann man mit dem Abbau von Doppel- und Mehrfachangeboten, die auch West-Unis betrafen. HU-Orchideenfächer wie Judaistik oder Hebräisch wurden komplett gestrichen.

Tierarzt Hans-Peter Neumann hat 1988 sein Studium der Veterinärmedizin an der Humboldt-Universität begonnen. 1995, in seinem Abschlussjahr, durfte er sich noch aussuchen, ob HU oder FU auf dem Zeugnis stehen sollen. Drei Jahre zuvor hatte das Berliner Abgeordnetenhaus das so genannte „Fusionsgesetz“ verabschiedet, wonach mit einer Übergangsfrist von fünf Jahren die Veterinärmedizin ausschließlich an der FU angesiedelt werden sollte.

Neumann und die meisten anderen seines Jahrgangs entschieden sich für ihre alte Alma Mater HU. Danach wurde ihr Studiengang an der HU eingestellt und nur noch an der FU unterrichtet. Wer Tierarzt werden wollte, konnte das nur noch im Westen.

Die gravierendsten Folgen hatte das für die Mitarbeiter*innen des geschlossenen Ost-Instituts. „Viele der Professoren sind in Rente gegangen, manche in andere Städte. Aber sie sind ja nur die Spitze des Eisbergs, den ganzen Mittelbau an wissenschaftlichen Mitarbeitern der HU hat es viel härter getroffen. Großartige Forscher wurden dann Kuhdoktor, weil es ihnen oft nur übrigblieb, wieder als praktischer Tierarzt zu arbeiten“, erinnert sich Neumann.

Die „Streik-Aufgefordert“

Die Veterinärmediziner*innen waren unter den ersten, deren Institut geschlossen wurde. Den Geisteswissenschaftler*innen der HU blieb mehr Zeit, um auf die Umstrukturierungen zu reagieren. Am 6. Dezember 1993 brachte die UnAuf gemeinsam mit dem studentischen Aktionsrat, dem StuPa-Vorgänger, ein Sonderheft heraus.

Die „Streik-Aufgefordert“ war ein Aufruf zum Protest: Fünf Ausgaben erschienen aufeinanderfolgend im Dezember 1993. Die Studierenden forderten Fachschaften, Beteiligungen an den Hochschulgesprächen der Politiker*innen und wollten eigenständig am neuen Lehrplan mitwirken. Das Hochschulrahmengesetz der Westregierung war ihnen ihrer Meinung nach ungefragt aufgedrängt worden.

„Der Westen hatte für das Studium in der DDR das abfällige Wort ‚verschult‘“, sagt Neumann. „Das bedeutete eigentlich nur, dass man nicht anonym in überfüllten Hörsälen saß oder dass es dem Professor nicht total egal war, ob du beim Seminar anwesend warst oder nicht. In der DDR war das ganz anders.“ Feste Seminargruppen mit Anwesenheitspflicht und viel kleineren Studierendenzahlen seien vor der Wende üblich gewesen, so Neumann.

„Wir mussten praktische Stunden nachweisen, was bei West-Studentenzahlen utopisch war. Theoretisch hatten wir eine intensivere Ausbildung, was ich als Vorteil sehen würde, aber im Westen wurde das als unfrei dargestellt“, sagt Neumann. Student*innen mit 36 Semestern habe es in der DDR nicht gegeben. „Wenn du deine Regelstudienzeit nicht eingehalten hast, bist du rausgeflogen“, schließt er.

Trotz  der Proteste wurde das Westberliner Hochschulrahmengesetz in den Jahren nach dem Zusammenbruch der DDR einheitlich durchgesetzt.

Wo die einen Fächer gestrichen wurden, hat man in andere investiert. Geschichte, Jura oder die Wirtschaftswissenschaften wurden erst in den Neunzigern zu den renommierten Institutionen, die sie heute sind. Zu Ost-Zeiten hatte die HU nur etwa 10 000 Studierende. Einige Jahre nach der Wende waren es um die 30 000, womit sie mit den beiden West-Unis mithalten konnte.

„Trotz aller Schwierigkeiten, die der Vereinigungsprozess mit sich brachte, hat die HU in einem außergewöhnlichen Umstrukturierungsprozess hervorragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ost und West, dem In- und Ausland gewinnen können. Infolge der Erfahrungen mit ihrer Selbsterneuerung nach 1989 versteht sich die Humboldt-Universität heute als Reformuniversität im Zeichen der Exzellenz“, heißt es heute in der Selbstdarstellung der HU.

Trotz einer  Geschichte massiven Personalabbaus und aufgezwungener Reformen: Die Universitätsleitung blickt positiv auf die Wendejahre zurück. So sehen es viele, die damals nicht dabei gewesen sind.

 

Illustration: Michael Weinlein