Geschrieben von Leonard Wolckenhaar
Ungarn, 23. Oktober 2011
Wer ist Viktor Orbán? Was ist der Fidesz? Und wieso sprechen alle über Zweidrittelmehrheiten? Um eine einschätzende Einführung in Ungarns politische Landschaft zu geben und damit ein besseres Verständnis der anderen Artikel zu ermöglichen, antwortet der folgende kurze Überblick auf diese und andere Fragen zum politischen Ungarn.
Ähnlich wie Deutschland ist auch Ungarn eine parlamentarische Demokratie. Auch hier werden die Abgeordneten durch eine Mischung aus Personen- und Verhältniswahl (Parteilisten) bestimmt.
Die letzten Wahlen fanden 2010 statt und brachten diese Kräfte ins Parlament:
- Fidesz/KDNP. Fidesz ist die Partei von Premierminister Viktor Orbán und Staatspräsident Pál Schmidt. KDNP ist ihr Koalitionspartner, die kleine christdemokratische Partei. Fidesz entstand in den Revolutionsjahren Ende der 80er Jahre vor allem als Stimme der jungen Intelligenz, zu der damals auch der aus dem Kleinbürgertum aufgestiegene Jurastudent Viktor Orbán gehörte (er ist heute 48). Dieser junge Student Orbán hielt damals als Oppositioneller eine legendäre Rede auf dem Budapester Heldenplatz, an die sich die Ungarn bis heute erinnern. Er forderte u.a. den Abzug der roten Armee. Es war der Beginn einer beispiellosen Karriere. Während die ersten Regierungen weitgehend neoliberalen Lehren folgten, die ungarische Wirtschaft privatisierten und westliche Investoren ins Land holten, verschlechterte sich für viele Ungarn die Situation – oder zumindest wuchs die Unzufriedenheit. Fidesz erkannte das und wandelte sich unter maßgeblichem Einfluss des brillanten Strategen Orbán von einer liberalen Jugendpartei in eine konservativ-nationale Partei mit sozialen, protektionistischen und klerikalen Inhalten. 1998 schaffte es Orbán erstmals, Ministerpräsident zu werden. Nachdem er 2002 überraschend abgewählt wurde und 2006 erneut scheiterte, spielte ihm das Versagen der Sozialisten in den nächsten Jahren in die Hände. Fidesz/KDNP errang darauf bei den Wahlen 2010 die Zweidrittelmehrheit, mit der beinahe alle Gesetze und Grundsätze des Staats verändert werden können. Und tatsächlich: die Liste von Orbáns Turbo-Projekten ist lang: Verfassung, Mediengesetz, Arbeitsrecht, Religionsgesetz, Unterrichtsreform, Kopfsteuer, Festesetzung der Wechselkurse,… Der riesige Erfolg ist zwar zu einem großen Teil Orbáns Verdienst. Jedoch wäre ein derart historischer Sieg nicht ohne den landesweiten Frust über die alte Regierung und die Besonderheiten des Wahlsystems möglich gewesen. Ein großer Teil der Ungarn geht inzwischen sowieso überhaupt nicht mehr zur Wahl. Somit stehen die 2/3 der Parlamentsmandate bei weitem nicht für 2/3 der ungarischen Bevölkerung.
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MSZP. Die Sozialisten sind die Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei Ungarns. Ihr Spitzenkandidat Medgyessy gewann 2002, obwohl er als farblos galt, überraschend die Wahlen und löste damit Viktor Orbán nach dessen erster Amtszeit ab. Viele Beobachter sagen, dass Orbán dadurch ein politisches Trauma erlitten hat. Die Sozialisten haben seit dem Abgang von Gyula Horn, dem berühmten Staatsmann der 80er und frühen 90er Jahre ein massives Personalproblem. Die Kultur, die Funktionäre, die Strukturen und die wirtschaftlich-politischen Verstrickungen der alten Kommunistischen Staatspartei sind noch immer präsent. Premierminister Medgyessy selbst war dafür ein Beispiel: seine Verstrickung in die Arbeit des kommunistischen Geheimdienstes wurde enthüllt und auch im Amt agierte er schwach. Der Selfmade-Milliardär und charismatische Quereinsteiger Ferenc Gyurcsány, der als Mittzwanziger durch clevere Geschäfte in den Zeiten der Privatisierung nach der Wende ein Vermögen aufgebaut hatte, nutzte die Gunst der Stunde, um sich an die Spitze des Staates zu bringen und wurde 2004 Medgyessys Nachfolger. Er ist mehr wirtschaftsliberaler „Machertyp“ als in der Partei verwurzelter Veteran. Die Partei nahm das aber durchaus dankbar an, denn in dem beliebten Gyurcsány sah sie die Möglichkeit, ihr graues Image aufzupolieren und leichter Wahlen zu gewinnen. Das gelang zunächst tatsächlich: 2006 wurden sie erstmals in der Geschichte der ungarischen Demokratie wiedergewählt. Herausforderer Viktor Orbán war durch kritische Presseberichte im Wahlkampf geschwächt worden. Gyurcsány trat seine zweite Amtszeit als Ministerpräsident an. Dann setzte jedoch bald der bis heute anhaltende Verfall der Sozialisten ein. Hauptanlass dafür war die legendäre „Lügenrede vom Balaton“. Gyurcsány sagte vor Parteimitgliedern frei heraus, dass die sozialistische Regierung in den letzten Jahren untätig gewesen sei und das Volk bewusst getäuscht hätte. Er wollte damit wohl für einen Ruck unter den Genossen sorgen und sie zu kraftvollen Reformen antreiben. Doch stattdessen spielte ein Mitarbeiter die Rede der Presse zu. Kaum öffentlich geworden, entfachte sie den Volkszorn. Fidesz ging zum massiven Angriff über, ließ keine Gelegenheit aus, die Sozialisten als Betrüger zu bezeichnen, die sofort aus den Ämtern weg müssten. Wilder Vandalismus griff ebenso um sich wie historische Massendemonstrationen. Im Streit um Reformen zerbrach dann auch noch die Koalition mit der Liberalen Partei. Ungarn rutschte in eine verheerende Wirtschaftskrise. Die Wahlen 2010 gingen krachend verloren, der Hass auf Gyurcsány und die sozialistische Misswirtschaft ist bis heute ebenso groß wie sein Selbstvertrauen in ein furioses Comeback, vielleicht auch ohne seine alte Partei. Die zerstreitet und marginalisiert sich in der Opposition indes weiter selbst, ist nach wie vor unbeliebt und als kräftige Opposition gelähmt. Ihr fehlt es vollkommen an starken Persönlichkeiten (vom gescheiterten und bei den Funktionären ungebliebten Gyurcsány abgesehen) und selbst leidenschaftliche Fidesz-Gegner können in ihr keine überzeugende Alternative sehen.
- Jobbik. Jobbik ist die Partei am rechten Rand. Viele sagen, sie sei Orbán inzwischen gefährlicher als die nachhaltig geschwächten Sozialisten. Jobbik ist mal offen, mal verdeckt auf vielfältige Weise mit außerparlamentarischen Rechtsextremisten und paramilitärischen Truppen verbunden, die in letzter Zeit in Ungarn immer mehr Zulauf haben. Jobbik-Politiker forderten unter anderem, den Vertrag von Trianon aufzuheben. Dieser Vertrag verkleinerte nach dem ersten Weltkrieg das ungarische Staatsgebiet drastisch und führte dazu, dass bis heute über eine Million Ungarn im angrenzenden Ausland leben. Diese Auslandsungarn sind eine Gruppe, die auch Premier Orbáns besondere Fürsorge genießt. Der Trianon-Vertrag ist für viele Ungarn bis heute eine Art Trauma. Jobbik hat ernstzunehmendes Potenzial, zumal sie nicht nur aus dumpf-primitiven Nazis besteht, sondern ihre Führung durchaus clevere junge Akademiker aufweist und sie Jugendkulturen wie die Skinheads anspricht. Sie ist attraktiv für jene, die eine Protesthaltung mit irrationalen Ressentiments verbinden, so auch für große Teile der ungarischen Ökologie-, Esoterik- und Alternativbewegung, die im Gegensatz zu Deutschland größtenteils klar zum rechten politischen Spektrum gehört. Anders als die staatlich nahezu bedeutungslose NPD in Deutschland ist die Jobbik mit etwa 13% ins Parlament gewählt und hat Einfluss bis in die Mitte der etablierten Gesellschaft. So fielen bei der Rundfunkreform eine Reihe wichtiger Posten an Jobbik-Leute, was vielleicht auch ein Versuch Orbáns war, Jobbik durch Einbindung zu schwächen.
- LMP. Die LMP ist eine neue Erscheinung unter Ungarns Parteien und sicher nicht ohne die große Enttäuschung sowohl über Fidesz, als aber auch vor allem über die Sozialisten zu erklären. Ihr Motto ist: „Eine andere Politik ist möglich!“ Die LMP bezeichnet sich selbst als grün und liberalund will nach eigenem Bekunden einen frischen und transparenten Politikstil durchsetzen. Die LMP sucht nicht die Nähe zu den Sozialisten. Diese sind ebenso Zielscheibe ihrer Kritik wie Fidesz, LMP hat zum Beispiel die parlamentarischen Untersuchungen gegen Gyurcsány mit angetrieben. Ihren Senkrechtstart hat die LMP vor allem jungen Bildungsbürgern zu verdanken.
Nicht mehr im Parlament vertreten ist die MIÉP, eine Partei alter, geifernder Faschisten. Einem von ihnen hat der Budapester Fidesz-Bürgermeister nun überraschend die Leitung eines Stadttheaters übertragen. Das wird teilweise als Zeichen gedeutet, die MIÉP wieder aufzuwerten, um das rechtsradikale Lager zu spalten und Jobbik zu schwächen. Die klassische liberale Partei Ungarns, lange Koalitionspartner der Sozialisten und die alte konservative Partei MDF, der die beiden ersten frei gewählten ungarischen Regierungschefs angehörten, sind 2010 aus dem Parlament geflogen. Die außerparlamentarische Opposition ist momentan in einer Art Findungsphase. Verschiedene Protestbewegungen und vor allem Gewerkschaften versuchen derzeit in Anlehnung an die polnische Solidarnosc-Bewegung ein breites Bündnis verschiedener Protestgruppen zu bilden, das sich klar von den politischen Parteien distanziert. Es wird aber nicht ausgeschlossen, dass aus den Bürgerprotesten eine neue Partei erwachsen kann.