Illustration: Milena Bassen

 

„Wer ist der Nächste?“

Ich wusste, dass ich es war, traute mich aber nicht und stellte auf Durchzug. Dann zeigte der Mann auf  mich, einen damals sechsjährigen Knirps in gelber Warnweste, und ich wusste, es gab kein Entkommen mehr. Er hatte eine Waffe, die Situation war also gefährlich. Allerdings ging die wahre Gefahr nicht vom Mann mit der Waffe, sondern von diesen rätselhaften Streifen auf der Straße vor mir aus.

Dabei hatte es der unlustige Schulpolizist doch ganz gut erklärt. Den Verkehr verfolgen, an den Fahrbahnrand treten, die Hand heben, den Fahrern, wenn sie bremsen ins Gesicht schauen und über die Streifen schlendern.

Wo ist das Problem? Kein Problem.

Irgendwann habe ich das natürlich kapiert, mein Zebrastreifentrauma halbwegs überwunden und konnte im Unterricht lauter als meine Klassenkameraden mein Lieblingslied von Rolf Zuckowski, dem verkannten Genie jener Zeit, singen.

Zebrastreifen, Zebrastreifen, mancher wird dich nie begreifen.
Zebrastreifen, Zebrastreifen, doch ich weiß Bescheid. 

Ein tolles Gefühl, der Zebrastreifen war mein Freund. Wenn ich mal wieder einen Ball über die Hecke gebolzt hatte und die Straße überqueren musste, war ich innerlich kurz aufgewühlt, doch dann sah ich zur rechten Zeit, den Zebrastreifen gar nicht weit.

Oh ja, ich wusste Bescheid.

Doch in Rom erlebe ich gerade ein Revival meines Zebrastreifentraumas. Das Vertrauen ist weg. Der Beziehungsstatus zwischen dem Zebrastreifen und meinem erwachsenen Ich ist wieder kompliziert. So mische ich mich auf der Piazza Venezia am Fuße des Kapitols, meiner persönlichen Zebrastreifenhölle, meist unter Touristengruppen um nicht überfahren zu werden. Oft gehe ich mit ihnen bis zur Spanischen Treppe. Aus Sicherheitsgründen.

Vor einigen Jahren stand auf der Kreuzung vor dem Monumento a Vittorio Emanuele II noch ein ulkig verkleideter Verkehrspolizist auf einem Klotz. Den mochten alle, Touristen, Autofahrer, Fußgänger und besonders Menschen mit Zebrastreifenphobie. Er dirigierte das Chaos wie ein Orchester, pfiff wie ein souveräner Schiedsrichter und bewegte sich auf seinem Klötzchen elegant, so als hätte er einen Tanz einstudiert. Dann, eines frühlingshaften Märztages des Jahres 2009, war er weg. Einfach weg. Erste Sparmaßnahmen der Regierung? Ist er ausgewandert? Oder hatte er sich – Gott behüte – verdirigiert, verpfiffen, vertanzt?

Ich persönlich tippe auf Burnout.

Meistens bin ich auf mich allein gestellt. Dann hebe ich meine Hand, summe leise Rolf Zuckowski vor mich hin und lächle dem Fahrer freundlich zu. Nur sieht der mich leider nicht. Wie auch, bei 90 km/h? Nicht selten werde ich angehupt, aber ob das ein freundlich gemeinter Gegengruß ist, oder eher sagen will: „Noch einen Schritt und du wirst dem Zebrastreifen gleich gemacht!“, weiß ich leider nicht.

Wie komm ich hier nur rüber jetzt. Das ist ja heute wie verhext, summe ich dann notgedrungen weiter. Denn falls ein Auto versehentlich doch mal hält, ist nicht gesagt, dass ein Motorroller mitsamt Fahrer der gleichen Meinung ist.

Das sind noch echte Draufgängertypen! Da kommen dem Zebrastreifenüberquerer auf einer zweispurigen Straße schon mal drei Autos und zwei Motorroller auf einer Höhe entgegengerast.

Und oft steh ich am Fahrbahnrand und denk, das ist doch allerhand, denn auch im stockenden römischen Feierabendverkehr ist die Angelegenheit nicht einfacher, im Gegenteil. Die Unbeweglichkeit der dicken Autos nutzen die kleinen wendigen Vespas clever aus, um sich im Slalom, mal links mal rechts, wie Skifahrer im Abfahrtsrennen um Stangen, um die Fiat 500’s zu schlängeln. Nebenbei fluchen sie ins Smartphone, das sie vor dem Start zwischen Ohr und Helm gequetscht haben.

Die alten Römer hatten da eine gute Lösung gefunden und Trittsteine auf der Fahrbahn verlegt, auf die sich der sorgsame Senator stellen konnte, um die Aufmerksamkeit des waghalsigen Wagenführers zu erlangen.

Das kann ich natürlich nicht machen, so einen Trittstein zur Uni mitschleppen.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als tagtäglich mein Leben zu riskieren.

Zebrastreifen, Zebrastreifen, alle die dich nicht begreifen,
Zebrastreifen, Zebrastreifen, die tun mir nur leid.