In unter einem Jahr eine Million Euro verdienen, das scheint bei Schneeballsystemen möglich. Unsere Autorin hat sich eine solche Veranstaltung angeschaut und war einen Abend lang Millionärin

„Wow, es ist so eine Ehre, vor so vielen Millionären sprechen zu dürfen“, eröffnet ein Redner in Anzug die Veranstaltung. Die Millionäre, das sind wir. Eine durchgemischte Gruppe Menschen, von Studierenden bis zur Altenpfleger*in, in einem tristen, unordentlich bestuhlten Kellerraum irgendwo in Berlin. Eines haben wir alle gemeinsam: Wir sind keine Millionäre und wir haben alle eine Einladung zu diesem Event zugemailt bekommen. Zwischen billigen Komplimenten und bunten Emojis wird uns darin versprochen, unser Leben in den Griff zu bekommen und viel Geld zu verdienen. 

Hinter der Veranstaltung steckt ein sogenanntes Pyramidensystem, ein in Deutschland verbotenes Geschäftsmodell. Nach dem „Schneeballsystem“ werden dabei immer mehr Teilnehmer*innen angeworben, um ein bestimmtes Produkt zu vermarkten. Ganz unten in der Pyramide sind die Neurekrutierten – also wir -, darüber kommen die älteren Mitglieder, hierarchisch angeordnet nach ihrem Erfolg beim Anwerben neuer Kunden. An der Spitze stehen die Gründer*innen des Systems.  

Es folgt nun ein circa 90-minütiges, kostenloses „Seminar“. Die kurze Einführungsrede klingt zunächst nach einem Persönlichkeitsentwicklungs-Workshop. Das eigentliche Produkt findet keine direkte Erwähnung. In einer kurzen Ansprache erklärt ein sportlicher junger Mann in  Anzug und Gucci-Turnschuhen den rund 30 Anwesenden, wie der Arbeitsmarkt in Deutschland funktioniert – zumindest seiner Meinung nach. Dabei verwechselt er bei seinen schicken Infografiken des Öfteren oben und unten und verdreht die ein oder andere Zahl, aber das bringt ihn kaum aus dem Konzept. 

Zum Millionär in nur einem Jahr

Er verspricht uns, durch den Einstieg in das Trading-System noch vor Ende diesen Jahres Millionäre zu werden. Bereits nach fünf Minuten widerlegt die nächste Rednerin dieses Versprechen: Sie betitelt sich stolz als beste “Traderin” aus der Region Berlin-Brandenburg. Sie sei jetzt schon seit knapp zwei Jahren dabei und verdiene in etwa 2000 Euro im Monat. Die restlichen Teilnehmenden im Raum scheint das nicht zu irritieren. Sie wiederholen begeistert im Chor das Mantra „Ich bin ein Millionär“. Als Teil der “Trading-Familie” können wir schließlich alles schaffen!  

Ein kurzes Video  zeigt uns, was wir verpassen würden: eine Gruppe junger Menschen steht auf dem Dach einer prachtvollen Villa in einer Großstadt in den USA und springt in den privaten Pool, fährt mit teuren Autos die Küste entlang und hält Markenuhren in die Kamera. In Wirklichkeit bleibt dies allerdings in der Regel nur der Spitze der Pyramide vorbehalten, die auf die Einzahlungen des Fundaments baut. 

Die nächste Rednerin stellt zur Halbzeit des Events das Produkt vor: eine Trading-Software. Nach Abschluss eines monatlichen Abonnements kann man direkt mit dem Geldanlegen beginnen. Die Software beinhaltet verschiedene Tools, die Trends im „Markt“ voraussagen und Chats mit älteren (und reicheren) Mitgliedern, welche einem bei den ersten Trades helfen können.

Der Abschlussredner, ebenfalls in Anzug und Gucci-Turnschuhen, legt uns noch eine letzte Weisheit ans Herz: Bloß nicht auf die Ratschläge der eigenen Eltern hören. „Meine Eltern sind nicht reich. Wieso sollte ich also auf sie hören, wenn es um meine Zukunft geht? Sie sagen ich soll studieren, wie sie es getan haben. Ich denke, wer reich werden möchte, muss auf die Ratschläge der Reichen hören! Deshalb habe ich mein Studium abgebrochen und konzentriere mich aufs Traden.“

Alles Schwindel

Die Botschaft der Veranstaltung ist: Wir alle arbeiten ungerechterweise für die „Reichen“, leben in einer Welt der Unterdrückung durch Arbeitgeber und lassen diese über unser Leben bestimmen. Die Befreiung liegt in der Selbstständigkeit, also im Trading. Die Krux daran: Ihr System basiert genau auf diesen Grundsätzen – je nach Gewinnrate pro bestimmtem Zeitraum werden die “Trader” in hierarchische Kategorien eingeteilt. Der untere Teil der Pyramide bekommt höchstens einen Bruchteil des Gewinns. Die Ausbeutung, die sie in unserer Gesellschaft, an unserem konventionellen Arbeitsmarkt kritisieren, führen sie also in gesteigerter Form in ihrem System fort.