Oder auch: Wenn sich Fernsehserien echter anfühlen als die Realität. Ein Gefühl, das wohl so einige kennen, wird in diesem, zuvor bereits auf dem Sundance Film Festival gezeigten US-amerikanischen Beitrag radikal weitergesponnen. Das hätte auch schiefgehen können, aber Regisseur*in Jane Schoenbrunn schafft es, eine diffuse Melancholie zu erzeugen, der man sich schwer entziehen kann.

Eine High-School in den USA, irgendein Vorort, es könnte Ohio sein, Kalifornien oder New Jersey. Von Deutschland aus tut sich da nicht viel, denn dieses Bild hat man schon tausend Mal gesehen. Welche Geschichte wird sich wohl dieses Mal in den Hallen zusammenspinnen und unsere (deutsche) Fantasie entführen?

Ein unbeholfener Teenager, 12 oder 13 Jahre alt, eröffnet in seiner ganzen teenagerhaftig-melodramatischen Art die Handlung dieses 100-minütigen Horror-Dramas, das von Hollywood-Schauspielerin Emma Stone mitproduziert und mit Musik der wehleidigen Indie-Ikone Phoebe Bridgers und des etwas weniger bekannten Alex G untermalt wurde. Ganz in seiner eigenen Welt drückt sich Protagonist Owen (gespielt von Justice Smith) durch die Gänge und Aufenthaltsräume der detailreich den 90er-Jahren nachempfundenen Schule herum, als er auf die ebenso teenagerhaftig-melodramatische, jedoch ein paar Jahre ältere Maddie (gespielt von Brigette Lundy-Paine) trifft. Ein paar Jahre Altersunterschied sind in dieser Phase Welten und so kostet es den dazu noch megalomanisch schüchternen Owen Kraftreserven, die ansonsten vermutlich bis Weihnachten gereicht hätten, um Maddie anzusprechen. Das tut er allerdings nicht, weil er auf sie „crusht“, wie man das wohl heute nennen würde, sondern, und da kommt auch schon die Tragik dieses Films ins Rollen, weil ihn das Buch, das sie liest auf eine hypnotische Weise in seinem tiefsten Innersten berührt. Es ist nicht gerade Goethe, der die auf dem Boden hockende, leichte Emo-Vibes ausstrahlende Jugendliche da so sehr in den Bann zieht, dass sie Owen zunächst gar nicht bemerkt. Nein, es ist der Episodenguide einer übernatürlichen Girlie-TV-Show mit dem leicht peinlichen Titel „The Pink Opaque“, die – wie Maddie eingehend betont, auf keinen Fall für Kinder ist: „No way, the show is way too dark and the symbolism is way too complicated for regular teenagers” erklärt sie Owen mit manischem Glitzern in den Augen. Für den armen Jungen kommt wohl bereits ab diesem Moment jede Hilfe zu spät, auf jeden Fall dann aber, als Maddie ihn zum heimlichen Serienschauen bei sich einlädt. Die läuft nämlich erst um 23:30 als letzte Show vor dem Nachtprogramm, was jetzt nicht gerade für ihre Beliebtheit spricht. Aber ist ja auch extrem nieschig und nur etwas für wahre Kenner*innen, klar.

Im Kino nimmt man das Ganze zunächst eher mit einem Schmunzeln zur Kenntnis, denn so bahnbrechend sind die schnulzigen, von klimpernden esoterischen Klängen unterlegten TV-Szenen jetzt nicht. Was viel mehr schockiert sind allerdings die beiden Heranwachsenden, denn diese steigern sich immer mehr in ihr imaginäres Universum hinein, sodass die Serie in ihrer Wahrnehmung zunehmend der eigenen Wirklichkeit entspricht.
Das klingt etwas abgedroschen, aber Schoenbrunn inszeniert dies auf eine sehr nachfühlbare Art und Weise, auch weil die beiden Schauspieler*innen die jugendliche Verlorenheit und Orientierungslosigkeit ihrer Figuren wirklich sehr gut rüberbringen. Es sind die 90er-Jahre und bevor Berieselung in jeder Sekunde des Tages unbegrenzt verfügbar war, müssen solche Phantasiewelten wie Rauschgift auf junge Menschen gewirkt haben, die etwas mit sich und dem Leben hadern.

Hauptfigur Owen (Justice Smith) mit Kumpanin Maddie (Brigette Lundy-Paine) beim gemütlichen Fernseh-Abend (© A24 @ Berlinale Stills)

Maddie ist lesbisch und ihr Elternhaus gewalttätig, was man allerdings nicht zu Gesicht bekommt. Owens Familie ist zwar zunächst intakt, der Vater jedoch distanziert und die Mutter zwar sehr besorgt, aber etwas ratlos, wie sie mit ihrem sich immer weiter abkapselnden Sohn umgehen soll, der offensichtlich nicht mit den Hürden des Erwachsenwerdens klarkommen kann oder will und sich stattdessen heimlich von Maddie gebrannte Kassetten der Serie im Keller anschaut. Manchmal scheint es, als würden alle in diesem Film ein bisschen Schlafwandeln, ein bisschen woanders sein, ein bisschen neben sich stehen, denn auch Owens Vater schafft es kaum, seine Augen vom Fernseher loszureißen, wenn sein Sohn abends nach Hause kommt.

Als „The Pink Opaque“ überraschend abgesetzt wird, und das mit keinem guten Ende für die beiden Superheldinnen der Serie (sie werden vom Superbösewicht „Mister Melancholy“ bei lebendigem Leibe begraben), bricht für Maddie eine Welt zusammen. Sie will Owen überzeugen, mit ihr zu verschwinden, aber bereits da ahnt dieser Böses, und zwar, dass Maddie mit „Abhauen“ jetzt nicht unbedingt die nächste Kleinstadt meint. Sie hinterlässt einen zerstörten Fernseher im Garten ihres Elternhauses und ist anschließend wie vom Erdboden verschluckt. Für Owen irgendwie eine Erleichterung, doch sein Leben wendet sich nicht unbedingt dem Besseren zu, dafür ist er einfach ein zu passiver Charakter. Er wohnt weiterhin bei seinem Vater und wirkt mit Mitte Zwanzig noch immer genauso schambehaftet und unbeholfen wie als Teenager. Was das Ganze mit verdrängter Sexualität zu tun haben könnte, bleibt im Film nur angedeutet, aber die nichtbinäre Regisseur*in Jane Schoenbrunn wollte hier definitiv etwas vermitteln.

So ganz abgehakt hat Owen die Erlebnisse von damals allerdings noch nicht, denn er kann seinen Augen nicht trauen, als eines Abends in einem Supermarkt die nun sehr klischeehaft lesbisch aussehende Maddie in Bikerjacke und Kurzhaarfrisur vor ihm steht. Sie gehen in einen Konzertclub, und hier erreicht der Film seinen verstörenden Höhepunkt, der wohl für die Epilepsiewarnung verantwortlich gewesen ist. Ohne zu viel zu verraten, sei doch gesagt, dass die gute Maddie mittlerweile komplett in die Welt der Fernsehserie ihrer Jugend abgedriftet ist. In diesem Moment schreckt man im Kino etwas zurück und das Ganze kippt ins Lächerliche, was wohl auch so gewollt war. Die Geschichte lebte nämlich zunächst davon, die Zuschauenden zu verführen, den beiden in ihrem Wahn zuzustimmen. Im Kinosaal kann man die Enttäuschung nachfühlen, die Owen in Konfrontation mit der Realität erlebt. „This isn’t the ‚midnight realm‘ Maddie, this is just … the suburbs” versucht er seiner Wahnkumpanin entgeistert klarzumachen.
Doch auch Jahre später, nachdem Maddie für immer verschwunden ist, bleibt ein leiser Wehmut in Owens deprimierend alltäglichem Leben zurück. Auf eine Art war Maddie nämlich konsequenter in ihrer Weltflucht. Eine Welt, in der der ängstliche Owen für immer Außenseiter bleiben wird.

Der Film hat ästhetische und teils sehr bunte Bilder, bleibt in seinen Horrorelementen recht sparsam (es gibt nur ein paar wirklich gruselige Szenen, der Rest ist eher bedrückend und deprimierend) und ist alles in allem wirklich gelungen. Jedoch zieht er sich wegen der vielen Zeitsprünge in Owens Leben etwas in die Länge und so hat man das Gefühl, dass er schon zwei Mal hätte enden können, bevor er es dann mit Owen als Mitte-, Ende-Vierzigjährigem wirklich tut. Dennoch erzählt der Film mit teils absurdem Humor eine sehr sehenswerte Geschichte aus der US-amerikanischen Gesellschaft, die so wohl auch nur im Land der „Traumfabrik“ Hollywood hätte entstehen können.


© A24 @ Berlinale Stills