In ihrem 68-minütigen Dokumentarfilm „Dahomey“ erzählt die französisch-senegalesische Regisseurin Mati Diop die Geschichte der Rückführung gestohlener Kunstwerke nach Benin. Mit der europäischen Kolonisierung des afrikanischen Kontinents ging eine beispiellose, zumeist gewaltvolle Enteignung einher. In den vergangenen Jahren gab es in Frankreich einen regen Diskurs um die Rückgabe gestohlener Artefakte. Dieser entstand in Reaktion auf laut gewordene Forderungen aus verschiedenen afrikanischen Staaten.
Bunt blinkende Miniatur-Eiffeltürme stehen auf einer Decke, inmitten der Pariser Nacht. Die Anfangsszene vermittelt ein elektrisierendes Gefühl großstädtischer Entfremdung. Häufig verkaufen in der Diaspora lebende westafrikanisch stämmige Verkäufer auf solchen Decken billige Souvenirs an Tourist*innen aus aller Welt. Im postkolonialen Frankreich handelt es sich dabei für migrantisierte Menschen um eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Einerseits zeigt sich hier die Verkäuflichkeit von kulturellen Artefakten im massenhaften Warenkonsum, andererseits wird deutlich, wie manche Menschengruppen gezwungen werden, diese Produkte zu verkaufen.
Vom pulsierenden, träumerischen Abendleben der französischen Hauptstadt führt der Film ans linke Seineufer, ins Musée du Quai Branly. Das Museum konzentriert sich auf außereuropäische Kunst und ist seit 2018 aufgrund von ausgestelltem und gelagertem kolonialem Raubgut vermehrt in die Kritik geraten. In langen Schnitten zeigt der Film grelle, menschenleere Räume. Hier ruhen etwa 70.000 Artefakte, deren Herkunft südlich der Sahara liegt. Es offenbart sich ein Kontrast zwischen der imposanten, belebten Innenstadt und der unheimlichen Leere des Museums bei Nacht.
Dem Film gelingt es, die Rückführung der Raubkunst nicht aus der Perspektive vermeintlicher Expert*innen, dekoriert durch Titel europäischer oder nordamerikanischer Universitäten, zu erzählen. Stattdessen wird den Statuen eine eigene Stimme gegeben, die immer wieder aus dem Off spricht. So erzählt beispielsweise der ehemalige König Ghezo aus der geschlossenen Transportkiste von seinem Alltag aus dem dunklen Keller des Museums. Durch den gewaltvollen kolonialen Raub wurden nicht nur beliebige Gegenstände gestohlen, sondern Benin wurde seines kulturellen Erbes beraubt.
Indem die Statuen in ihrer Muttersprache Fon sprechen, werden sie zum Leben erweckt. Die eigene Stimme löst die passiven Objektive aus den Fesseln der Abhängigkeit von selbst zentrierten Politiker*innen und Expert*innen, die üblicherweise für sie sprechen. Ghezo meldet sich als Nummer 26 zu Wort und veranschaulicht damit die eigene Gewalterfahrung, die mit der Verschleppung und kolonialen Verfremdung verbunden ist. Gestohlene Artefakte wurden penibel durchnummeriert und damit ihrer eigentlichen Bedeutung und Identität beraubt. Der Klang der Stimme wurde stark verzerrt und wirkt unheimlich, er klingt wie aus einer anderen Welt. Ein klaustrophobisches Gefühl kommt auf, da die Zuseher*innen mit den Objekten in die dunklen Transportkisten eingesperrt werden und somit der dunklen Enge ausgesetzt sind.
Frankreich eignet sich die Geschichte des antikolonialen Widerstands an – auch wenn es im spezifischen Fall selbst Täter ist
Auch die Statue von Behanzin, dem letzten König des Königreichs Dahomey, kommt zu Wort. Er verkörpert die Geschichte des antikolonialen Widerstands gegen die französische Kolonialmacht. In den französischen Angriffskriegen organisierte er als dahomeyischer Herrscher die bewaffnete Verteidigung gegen Frankreich. Dafür handelte er mit dem Deutschen Kaiserreich Sklav*innen gegen Waffen und zog deutsche und belgische Militärberater*innen zur Konsultation heran. Es gehört wohl zur Ironie der Geschichte, dass sich die französische Kolonialmacht ausgerechnet die Widerstandserzählung gegen sich selbst einverleibt und nutzbar macht, indem sie diese in einem prestigeträchtigen Museum in ihrer Hauptstadt präsentiert. Damit beansprucht die fünfte Französische Republik in ihrer nationalen Selbsterzählung ein Monopol auf das Narrativ des Widerstands – auch wenn sie im hier vorliegenden Fall selbst die Erbin der kolonialen Täter*innen ist. Genau diese Widersprüche werden im Film behandelt, ohne dabei langatmig und belehrend zu werden.
Das Herzstück des Films ist eine studentische Debatte an der Université d’Abomey-Calavi. Mit fesselnder Rhetorik und bei geladener Atmosphäre wird im Hörsaal leidenschaftlich diskutiert. Allein um diese bewegende Streitkultur mitzuerleben, lohnt es sich, den Film anzusehen. Die engagierten Student*innen widersprechen einander vehement: Ein Student betont, 26 von insgesamt 7.000 Artefakten zurückzugeben sei eine Beleidigung der französischen Kolonialmacht. Dem hält eine andere Studentin die historische Bedeutung der Rückgabe und deren symbolischen Wert entgegen. Es müsse doch wohl unterschieden werden zwischen materiellem und immateriellem Erbe.
Es zeigt sich eindrücklich, dass es sich bei den Restitutionsforderungen eben nicht um eine in die Hochkultur entrückte Debatte handelt. Stattdessen wird die Bedeutung für die Menschen in ihrer Alltagspraxis betont. Die Ankunft der Objekte wird auf den Straßen ausgelassen gefeiert. Die Menschen in Benin verfolgen die studentische Debatte gebannt über ihre Autoradios oder auf dem Unicampus mit Kopfhörern. Dabei wird eine eigene politische Handlungsträgerschaft der Empfänger*innen in Benin sichtbar, die im europäischen Diskurs weitestgehend ausgeblendet wird.
Dahomey wirkt wie eine anti-eurozentrische Folie auf den Restitutionsdiskurs
Gleichzeitig wirkt die Debatte auch wie eine Folie, anhand der sich die schiere Ignoranz der eurozentrischen Perspektive zeigt. Die Rückgaben werden, wenn sie denn überhaupt stattfinden, von europäischen Regierungsvertreter*innen immer wieder als selbstlose, progressive Akte der Rückgabe inszeniert. Mit dieser Darstellung bricht der Film in eindrucksvoller Weise. Darüber hinaus werden in der hitzigen Debatte auch fortbestehende postkoloniale Verflechtungen aufgezeigt, wie die Rolle der französischen Sprache als wirkmächtiges Herrschaftsinstrument. Umso eindrucksvoller ist es, dass die Statuen ihre eigene Sprache, Fon, sprechen. Die Autorität sogenannter „Expert*innen“ wird dezentriert, indem sie erst in der zweiten Hälfte des Films zu Wort kommen und dabei schräg durch eine Glasvitrine gefilmt werden.
Mati Diops Dokumentarfilm wurde auf der Berlinale im vergangenen Jahr mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Bei der diesjährigen Oscarverleihung geht er als Beitrag Senegals in der Kategorie „Bester internationaler Film“ ins Rennen. Die Handschrift der Regisseurin zeigt sich in der Konzentration auf den Alltag der arbeitenden Bevölkerung, mit der sie bereits in ihrem Film „Atlantique“, aus dem Jahr 2019, brillierte. Besonders die großartigen, vibrierenden Aufnahmen des urbanen Lebens in Cotonou und Paris sowie die intellektuelle politische Tiefe machen „Dahomey” sehenswert.