Ein Obdachloser begeht Suizid. Die für die Zwangsräumung verantwortliche Gerichtsvollzieherin wird von Schuldgefühlen geplagt. Kontinental ‘25 ist eine Gesellschaftssatire, bei der den Zuschauer*innen das Lachen vergeht.

Ein Obdachloser streift fluchend auf der Suche nach Pfandflaschen durch einen Wald. In der nächsten Szene entpuppt sich der Wald als Freizeitpark und der Flaschensammler wird von Plastikdinosauriern angefaucht. So beginnt Kontinental ‘25, der neueste Film von Radu Jude.

Auf der Berlinale 2021 gewann Radu Jude mit der Gesellschaftssatire Bad Luck Banging Or Loony Porn den Goldenen Bären. In diesem Film dreht eine Lehrerin mit ihrem Mann zusammen einen Amateurporno, der versehentlich auf einer Internetplattform hochgeladen wird, woraufhin die Protagonistin einem Shitstorm ausgesetzt ist. Jude greift dabei viele gesellschaftliche Themen, wie die Corona-Pandemie, Nationalismus, Rechtsextremismus, Neoliberalismus und das realsozialistische Erbe Rumäniens, auf und schafft durch stimmige Überzeichnung der Figuren eine groteske Gesellschaftskritik, die zwar in Bukarest spielt, jedoch universelle Phänomene karikiert.

Dieses Jahr kehrte Radu Jude mit Kontinental ‘25 nach Berlin zurück und gewann den Silbernen Bären für das beste Drehbuch. Auch in diesem Film geht es um soziale Fragen, wie wirtschaftliche Ungleichheit, Gentrifizierung, den Umgang mit individueller Schuld, und darum, wie Neoliberalismus persönliches Handeln beeinflusst. Der mit einer Handykamera innerhalb weniger Tage gedrehte Film ist deutlich konventioneller erzählt als sein Vorgänger, wobei Tragödie und Satire fließend ineinander übergehen. 

Die Gerichtsvollzieherin Orsolya (Eszter Tompa) lebt als Angehörige der ungarischen Minderheit in einem Einfamilienhaus in einem Vorort von Cluj, der zweitgrößten Stadt Rumäniens. Eines Morgens verschafft sie sich mit Hilfe der Polizei Zugang zu einem Keller, um eine Räumungsklage durchzusetzen. Das Haus soll abgerissen werden und dem Neubau eines Luxushotels weichen. Dazu muss ein Keller geräumt werden, in dem sich ein Obdachloser aufhält. Orsolya gibt ihm zehn Minuten Zeit, seine Sachen zu packen. Als sie zurückkehrt, hat er sich qualvoll an der Heizung erhängt. 

Obwohl Orsolya, wie sie betont, aus juristischer Sicht nichts falsch gemacht, fühlt sie sich für den Suizid des Mannes verantwortlich und wird von Schuldgefühlen geplagt. Ihr bürgerliches Leben gerät daraufhin aus den Fugen. Sie sagt einen Griechenland-Urlaub mit der Kleinfamilie ab und vertraut sich einer Freundin an. Sie überlegt, durch Geldspenden an eine NGO ihr Gewissen zu beruhigen. Immerhin spendet sie bereits über ihren Handyvertrag zwei Euro pro Monat an humanitäre Projekte. 

Auch ein Gespräch mit ihrer Mutter verbessert Orsolyas Laune nicht. Die Mutter schimpft über die „rumänischen Bauern“, die die Stadt verwahrlosen lassen würden und lobt hingegen Viktor Orbán, woraufhin die beiden im Streit auseinandergehen. Orsolya betrinkt sich mit einem ihrer ehemaligen Studenten, Ion, der inzwischen als Fahrradkurier arbeitet und sie mit pseudo-philosophischen Zenweisheiten aufzumuntern versucht. Sie haben Sex in einem öffentlichen Park, woraufhin sich Orsolya übergeben muss. 

Das Gelungene an Kontinental ‘25 ist, dass der Film nicht auf der persönlichen Ebene stehen bleibt. Orsolyas Geschichte ist mehr als nur ein individuelles Schicksal. Vielmehr verhandelt der Film am Beispiel Orsolyas die Frage nach einem moralischen Leben in einer ungerechten Welt, die zunehmend von Nationalismus, sozialer Ungleichheit und Kriegen geprägt ist. Alle Menschen wissen, dass Spenden an eine NGO strukturelle Ungerechtigkeiten nicht beseitigt, trotzdem beruhigt es das Gewissen, sich für die Benachteiligten einzusetzen und seinen Alltag fortzusetzen. 

Ein Gespräch mit einem Priester, das mit Orsolyas Beichte beginnt, endet mit einem Gespräch über das Theodizee-Problem, für das auch der Priester keine überzeugende Antwort weiß. Ion trägt ein Schild mit der Aufschrift „Sunt Roman“, „Ich bin Rumäne“ auf deutsch, in Leuchtschrift an seinem Rucksack. Die Autofahrer*innen würden dann im Straßenverkehr mehr Rücksicht auf ihn nehmen, als auf seine Kolleg*innen mit Migrationsgeschichte. Viele der Szenen wirken überdreht, sind aber erschreckend nah an der Realität, mitunter fällt es den Zuschauer*innen schwer zu unterscheiden, was noch ironisch und übertrieben und was ernst gemeint ist. 

Kontinental ‘25 ist eine Satire über Schuld, Moral und Doppelmoral in kapitalistischen Gesellschaften, bei der einem als Zuschauer*in das Lachen vergeht.


Foto: Raluca Munteanu