Der gefeierte Film von Greg Kwedar präsentiert in etwas mehr als hundert Minuten so ziemlich alles, was die Gefühlswelt der männlichen Figuren zulässt. Dazu stellen sich Fragen der Gerechtigkeit einer rassistischen Strafjustiz und der Bedeutung von Kultur für eine gesunde Gesellschaft. 

Es ist eine bizarre Situation: Ein paar Worte auf der Bühne, tosender Applaus und danach grüne Kleidung, Reih und Glied, Aufrufe der jeweiligen Baracken. Die Darsteller, gerade eben noch so frei, talentiert, gefeiert, werden abgeführt, sind Häftlinge.

So beginnt Sing Sing, ein Film, der nach dem gleichnamigen Gefängnis im US-Bundesstaat New York benannt ist. Früh ergibt sich für die Zuschauenden der Luxus, die Anlage auf hübschen Kodak-Außenaufnahmen zu begutachten, während die Inhaftierten in ihren klaustrophobisch kleinen Zellen auf ihren Betten liegen und durch Wände hinweg miteinander kommunizieren. Wir folgen dem Mann, den alle Divine G nennen, und seinen Bemühungen für das Casting eines neuen Teilnehmers, Divine Eye. Als neuer Teil der Gruppe schlägt dieser eine Komödie vor und bringt (damit) nach und nach alles durcheinander. Trotz oder gerade wegen all der Hürden und Verluste der kommenden Wochen wächst der Zusammenhalt zwischen den Männern.

Auf der Bühne zurück in die Mitte der Gesellschaft

Eine Theatergruppe im Gefängnis: Porträtiert wird das Programm Rehabilitation Through the Arts (RTA), das 1996 in Sing Sing von den Inhaftierten selbst unter der Beihilfe von Katherine Vockins ins Leben gerufen wurde. Spätestens im Abspann können die Zuschauer*innen feststellen, dass dies nicht einfach ein Film über, sondern von der Theatergruppe ist. Mit der Rehabilitation ist ein Einstieg zurück ins gesellschaftliche Leben gemeint, im Idealfall ist der Betroffene nach der Haft „nicht rückfällig“, heißt: er oder sie begeht keine erneuten Straftaten. Das RTA-Programm betont, gerade in dieser Hinsicht effektiv zu sein. In den USA würden im Schnitt etwa 60 Prozent der Häftlinge drei Jahre nach ihrer Entlassung erneut inhaftiert werden; hätten sie das RTA-Programm durchlaufen, läge diese Rate bei nur drei Prozent. 

Die Theatergruppe ist zudem kein Einzelfall. Ein ähnliches Programm in Berlin, das Gefängnistheater aufBruch, war zuletzt von den Sparplänen des Senats betroffen. Zwar sei die grundlegende Finanzierung weiterhin gesichert, gerade die Zuwendungen wurden jedoch stark gekürzt. Zahlreiche Unterstützer*innen hatten sich jedoch für den vollumfänglichen Erhalt der Förderung ausgesprochen, zu Wort meldeten sich auch ehemalige Darsteller.

Selbstbehauptung und Würde hinter Gittern

Und im Film? Vieles passiert zwischen den Zeilen und Proben. Zahlreiche Themen werden berührt; aber stetig präsent ist der systemische Rassismus des US-Strafsystems: Alle Inhaftierten sind of colour, und tatsächlich ist es fünfmal wahrscheinlicher, als Nicht-Weißer in den USA inhaftiert zu werden – ganz zu schweigen von den höheren Raten an Polizeikontrollen von People of Colour (PoC) und der dadurch empfundenen Unsicherheit und Ungerechtigkeit.

Divine G liest sich neben Theater und Prosa auch in das Recht ein und bietet „kleinere juristische Hilfen“ an. Ein Rechtsstudium ist nicht notwendig, um im Laufe des Films die Willkür der Justiz zu verstehen: Ein Mithäftling kommt frei, doch Divine G nicht; für ihn geht es weiter, und mit ihm das Theater.

Und plötzlich ist da Gefühl: das Menschliche wird zugelassen

Was sind die (echten) Rollen, die bespielt werden? Ein wenig erinnert es an Erving Goffmanns Texte, als Divine G in der Anhörung gefragt wird, ob er der Staatsanwältin nicht gerade etwas vorspielt. Aber wer spielt hier was? Spielt die Staatsanwältin nicht gerade ihre Rolle? Die Beisitzenden? Ist nicht die ganze Gewalt, die ganze Haftanstalt eine schlecht gespielte Institution?

Nach und nach bröckeln die Masken der Inhaftierten, wenn sie etwa über den besten Moment ihres Lebens sprechen sollen, oder sich vorstellen, wie sie einen guten Freund wiedersehen. Dann sind die Porträtierten einfach nur Menschen, und die Distanz zum Publikum bricht weg. Darum geht es auch: Emotion und Verletzlichkeit unter einer Spezies, die wie keine andere furchtbar in ihrer Kommunikation ist – unter Männern. Unter denen nach und nach das Paradoxe gelingt: Aus den Texten folgt das Sprechen, in den Rollen liegt das Echte, im Spiel das Ungespielte. 

Die Freiheit im Kopf nicht verlieren – der Film sieht diese als etwas, das vom (Un)Recht nicht eingenommen werden kann. Um es mit den Worten John Miltons zu sagen: Einen Himmel aus der Hölle machen, so gut es geht. Einmal tippt sich Divine G an den Kopf, als er gegenüber dem neuen Teilnehmer betonen will, wie wichtig das Projekt ist; als wolle er sagen: Wenn wir schon in diesen Wänden nicht frei sind, dann doch wenigstens in unserem Körper.

Der Film Sing Sing läuft seit Ende Februar und ist noch bis zum 19. März in den Berliner Kinos zu sehen.