Rosenkriege in Neukölln. Regisseur Burhan Qurbani verlegt die Handlung von Shakespeares Richard III. ins Berlin der Gegenwart und gibt der Handlung dabei eine neue Tiefe.
Seit zehn Jahren steht Lars Eidinger schon als Richard III. in der Schaubühne auf der Bühne. Nach wie vor sind alle Vorstellungen ausverkauft. Wer es bisher nicht geschafft hat, Karten für das Spektakel zu bekommen, kann nun eine zeitgenössische Neuinterpretation von Shakespeares Klassiker auf der Berlinale bestaunen.
Die arabischen Großfamilien York und Lancaster kämpfen um die Vorherrschaft in der Welt des organisierten Verbrechens Berlins. Rashida (Kenda Hmeidan), die jüngste Tochter der Yorks, ist Anwältin und hat ihre Familie mehrfach durch geschickte Manipulation des Gerichts vor dem Gefängnis bewahrt. Nach einem Mordanschlag Rashidas auf die Lancasters gehen die Yorks als Sieger aus der Auseinandersetzung hervor. Um den Frieden zwischen den rivalisierenden Familien wiederherzustellen, beschließt Rashidas Bruder Imad (Mehdi Nebbou), Oberhaupt der Yorks, Rashida mit Ali Lancaster zu verheiraten. Rashida weigert sich und plant, sich den Weg an die Spitze der Unterwelt zu bahnen, wobei sie vor keiner Grausamkeit zurückschreckt.
Mit Berlin Alexanderplatz hat Regisseur Burhan Qurbani bereits 2020 eine literarische Vorlage für das Kino adaptiert und die Handlung in ein migrantisches Milieu verlegt. In Kein Tier. So Wild. fügt er der Handlung durch das Setting weitere Dimensionen hinzu, die im Theaterstück nicht vorkommen. Während in Richard III. der Machtkampf um die Krone ein Krieg zwischen Männern ist, sind es in Kein Tier. So Wild. Frauen, die um die Herrschaft des organisierten Verbrechens kämpfen. Rashidas Kampf um Anerkennung ist der Kampf einer Frau, die in patriarchalen Strukturen gefangen ist und nicht aus ihnen ausbrechen kann, solange das bestehende Familiengefüge intakt ist und Imad ihre Geschicke bestimmt. Sie ist ein Spielball zum Machterhalt in den Plänen ihres Bruders, dem sie stets loyal war und den sie mehrfach aus schwierigen Situationen gerettet hat. Rashidas Gegenspielerin ist Elisabeth York (Verena Altenberger), Imads Frau, die nach dessen gewaltsamen Tod versucht, die Familie zusammenzuhalten und Rashida in die Schranken zu weisen.
Obwohl wir Rashida als Figur nahekommen, ist der Film weit davon entfernt, ein feministisches Heldenepos zu sein. Ihr Ehrgeiz und ihre Skrupellosigkeit werden von Anfang an sichtbar. Im Laufe der Handlung, mit jeder Stufe ihres Aufstiegs, steigert sie sich weiter in eine schizophrene Mordlust hinein, die sie, ohne dass sie es merkt, immer weiter von ihren Verbündeten isoliert. Selbst treue Gefährtinnen, wie ihre Amme Mishal, wenden sich von ihr ab, da sie Rashidas Auftragsmorde nicht länger mit ihrem Gewissen vereinbaren kann. Ihre Aussage „Ich tue, was ich will. Darin liegt die größte Macht“ ist kein Ausdruck von Befreiung aus sozialen Normen, sondern das Streben nach Allmacht und Bekenntnis, sich keinen Regeln und keiner Moral zu unterwerfen.
Mit fortschreitender Handlung spielt die Herkunft der Familien eine immer größere Rolle. Rashida wird mit zunehmender Macht immer stärker von ihrer Kindheit und dem Krieg eingeholt, der die Familie zwang, nach Deutschland zu flüchten. Teilweise verschmelzen die beiden Kriege miteinander und Rashida muss sich eingestehen, dass sie ihrem Kindheitstrauma durch keine Macht und keinen Mord entfliehen kann.
Das sprachliche Ineinandergreifen von Shakespeares Originaltext und mitunter derber Alltagssprache ist weitgehend gelungen, auch wenn einige Verweise etwas gezwungen wirken, wie die Bezeichnung „Tower“ für das Familienverlies der Yorks und die Staublandschaft, in der die Handlung zum Ende des Films spielt.
Mit Kein Tier. So Wild. gelingt es Qurbani geschickt, einen fast 500 Jahre alten Klassiker der Weltliteratur in moderner Form auf die Leinwand zu bringen und eine Faszination für Gewalt zu erzeugen, der sich die Zuschauer*innen schwer entziehen können.
Foto: Lukasz Bak / Sommerhaus Filmproduktion – Port au Prince Pictures – Goodfellas