Am 02. Februar 2025 füllen 160.000 Menschen den Weg vom Reichstagsplatz bis zum Konrad-Adenauer-Haus. Bei dem Anblick von so vielen Menschen, die politisch aktiv werden und für ihre Werte einstehen, kommt Freude auf. Doch mit der Lebensrealität von Aktivist*innen in der Ostdeutschen Kleinstadt im Hinterkopf, wünscht man sich diese Menschenmassen auch anderswo. Ein Kommentar zu den Demos gegen Rechts in Berlin.
Das zweite Jahr in Folge strömen hunderttausende Menschen auf die Straße. Auch ich bin dabei. Die Tasche gepackt, eine Flasche Wasser dazu, dicke Wollsocken an fahre ich mit dem Rad in Richtung U-Bahn-Station Unter den Linden, wo ich mit meinen Freund*innen verabredet bin.
Ich trage einen Pullover mit der Aufschrift „FCK NZS“, habe mein Demoschild im Fahrradkorb und selbstverständlich gehe ich an meinem freien Sonntag zur Demo. Ich muss über mich selbst lachen, beim Fahrradfahren und jetzt beim Schreiben. Die Fahrradstraßen in Mitte sind ungewöhnlich voll für einen Sonntagnachmittag – mehr Fahrräder als ich an einem sonnigen Sommertag auf einem heimischen Fahrradweg jemals sehen würde. Auf den Gehsteigen sehe ich Gruppen mit Transparenten, Eltern mit Kindern.
Mein Rad vor der Staatsbibliothek abgestellt, wird das Bild, das sich mir eröffnet, noch abstruser. Scheinbar unendliche Menschenmassen, auf dem Rad und zu Fuß, bahnen sich den Weg zum Brandenburger Tor. Mein Herz schlägt höher und bricht beim nächsten Schlag. Wie schön es doch ist, in Berlin zu demonstrieren.
Der Demozug erreicht nie sein Ziel, der Platz vorm Konrad-Adenauer-Haus ist zu schnell voll.
Letztes Jahr zur gleichen Zeit stand ich auf einem Marktplatz in meiner Heimat. Meinen Eltern musste ich erklären, warum ich demonstrieren will. Für jeden Klimastreik und jedes Aufstehen gegen Rechts braucht es eine Rechtfertigung. Nein, in vielen Orten Deutschlands ist das keine Normalität, anders als hier in Berlin. Wie viele Menschen stünden vor dem Brandenburger Tor, wenn ihre Teilnahme Konsequenzen hätte? Wenn die sonntägliche Demo nicht zum guten Ton gehören würde? Ich denke an abfällige Kommentare, denen ich mich stellen muss für meinen Aktivismus zu Hause und an Gruselgeschichten über Hausbesuche nach Demonstrationen. Nachrichten, wie die von Matthias Ecke, der beim Plakatieren in Dresden angegriffen wurde, sind nur die Spitze des Eisbergs.
Sind es jetzt die Antifaschist*innen im Hinterland, die bessere Arbeit leisten? Aber bringen die Veranstaltungen hier nicht viel mehr Menschen auf die Straßen? Die Menschen, die sich vor dem Reichstag versammeln, braucht es auch an so vielen anderen Stellen. Die Menschen, die im Hinterland auf die Straße gehen, bringen oftmals mehr Mut auf, um sich dorthin zu wagen. Die Versammlungen oft kleiner, kein Vergleich zu denen hier in der Hauptstadt. Doch das macht sie nicht weniger bedeutend; jeder Widerstand gegen Menschenrechtsverachtung wird dringend benötigt. Und jeder Person auf einer großen
Demo sollte genauso viel Dankbarkeit entgegenkommen, denn ohne die einzelnen würden 160.000 nie entstehen. Ob ihre Anwesenheit in der kleinen Stadt mehr bringen würde, kann man nicht sagen. Vielleicht macht sie die Demo nicht wirksamer, aber man ist zumindest weniger allein.
An mir nagt das schlechte Gewissen, weil ich diese Probleme zu Hause gelassen habe. Ich fühle mich schlecht, weil ich mich für ein bequemes und einfaches politisches Leben entschieden habe. Ich fühle mich schlecht, dass ich die ostdeutsche Provinz hinter mir gelassen habe. „Und jetzt postest du begeistert das Grünen-Wahlergebnis aus deinem Kiez. ‚Nazis raus!‘ ruft es sich leichter, da wo es keine Nazis gibt” heißt es in einem Lied der Chemnitzer Band Kraftklub.
Moralische Zeigefinger helfen hier nicht – davon haben linke Bewegungen mehr als genug. Vielleicht ist das hier auch eher ein Versuch, mich selbst zu beruhigen.
Es bricht mir das Herz, weil ich gern nach Hause möchte. „Ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber wenn diese verrückt gewordenen Neonazis […] in meinem Heimatort Zwickau […] ‚Ost-, Ost-, Ostdeutschland‘ schreien, würde ich manchmal gern erwidern und umso lauter ‚Ost-, Ost-, Ostdeutschland‘ zurückrufen. […] Ich kann, möchte und werde nicht hinnehmen, dass uns die Faschos all das kaputtmachen.“ So beschreibt es Jakob Springfeld in seinem Buch „Der Westen hat keine Ahnung, was im Osten passiert“. Wie will ich das nun aber verhindern, wenn ich hier im schönen Berlin Demosprüche rufe?
Auf der Demonstration mit 160.000 Menschen, eher friedlich und mit viel Musik, konnte ich Kraft tanken, es ist fast schon ein Ort der Erholung. Meine Freund*innen haben mich gestärkt, meine Probleme anerkannt. Ein gestärktes Rückgrat und viel Mut habe ich im Gepäck, als ich in den Zug steige. Die Sorge ist groß, Antifaschist*innen in der Heimat mit ihrer Arbeit zurückzulassen. Doch dort angekommen, werde ich nicht mit Blicken bestraft. Auch sie können mir den Hinterlandsverrat nicht verübeln. Stattdessen freuen sie sich über meine Hilfe beim Abspülen nach der Küfa, Buchempfehlungen und aufmunternde Gespräche.