„Studieren ist ein Recht und kein Privileg“ – so lautet der Protest-Slogan des „Sans-facs“ Kollektivs, das zusammen mit dem französischen Studierendenverband „UNEF“ vor dem Hauptgebäude der Université Paris Nanterre für ihr Recht zum Studieren kämpft. In ganz Frankreich demonstrieren Studienanwärter*innen seit 2020 vor zahlreichen Unis für ihr Bildungsrecht. Ihnen geht es um den Anspruch auf Studienbildung, der seit 2018, durch die Einführung des selektiven Bewerbungsportals Parcoursup, erschwert bis verhindert wird. Woran richtet sich die Kritik der „Sans-facs“ und worin unterscheidet sich das französische zu dem deutschen Universitätssystem? 

 Mein erster Tag als Erasmusstudentin auf dem Campus der Université Paris Nanterre diesen September war in vielerlei Hinsicht aufregend. Voller Anspannung und Neugierde stand ich vor dem von tausenden Student*innen umzingelten Hauptgebäude, darauf wartend, dass sich die Türen für die Willkommensveranstaltung öffnen würden, als das Gebäude plötzlich von laut demonstrierenden Personen umringt wurde. „Kein Auslesen, keine Selektion, die Uni für alle Menschen!“ – die Slogans der „Sans-facs“ hallten über den Eingangsbereich des Campus. Demonstrationen sind an der Uni in Nanterre keine Seltenheit und so kämpften auch an dem Tag Studienanwärter*innen ohne Studienplatz für ihr Recht auf Bildung. Das „Sans-facs“ Kollektiv bildete sich 2020 als Reaktion auf die zunehmende soziale Ungerechtigkeit und die strukturellen Probleme im französischen Hochschulsystem. Es vereinen sich Studienanwärter*innen und Student*innen, die keinen – oder einen nicht gewünschten Studienplatz erhalten hatten – dies aufgrund der streng reglementierten Zulassungsbeschränkungen des 2018 eingeführten Bewerbungsportals Parcoursup.

 „Es gibt Hunderttausende von jungen Menschen, die [jedes Jahr] keinen Universitätsplatz haben“ – Sam, Studentin an der Universität Paris-Nanterre und UNEF-Aktivistin.

Anders als für die meisten Studiengänge in Deutschland bewerben sich die Studienanwärter*innen in Frankreich nicht an ihren Wunschuniversitäten einzeln, sondern über ein zentrales Internetportal: Parcoursup, das dem deutschen Bewerbungsportal Hochschulstart ähnelt. Es ist ein 2018 entstandenes Produkt, aus der Bildungsreform von Präsident Emmanuel Macrons erster Amtszeit, das er mit dem ehemaligen französischen Bildungsminister Jean-Michel Blanquer und der damaligen Ministerin für Hochschulbildung, Fédérique Vidal, einführte. Die Plattform sollte das vorherige Einschreibesystem, APB (Admission Post-Bac) durch eine „effizientere und transparentere“ Studienplatzvergabe ablösen.

Parcoursup – Der Teufelskreis der Warteliste

Dabei funktioniert sie komplett automatisiert und filtert durch Algorithmen die Bewerber*innen zu den offenen Studienplätzen. Die Platzverteilung wird durch Faktoren wie Noten, Motivationsschreiben, Empfehlungen und soziale Aspekte beeinflusst. Jede*r Bewerber*in steht durch das selektive Verfahren in Konkurrenz zueinander als Nummer auf einer endlosen Warteliste. Dabei gilt: Je früher man nach dem Ende der Schule studieren möchte, desto höher steht man auf der Warteliste und erhält bessere Chancen auf einen Studienplatz. Die Platzvergabe bleibt dynamisch und die jährlich rund 950.000 Bewerber*innen können bis kurz vor Studienbeginn Angebote an- oder ablehnen und so auf der Warteliste nachrücken. Frankreich verfügt über rund 650.000 Studienplätze für das erste Bachelorsemester, was ein starkes Ungleichgewicht zwischen Bewerber*innen und Plätzen auslöst und vielen keinen Platz ermöglicht. Einmal ohne Studienangebot, rückt man auf der Warteliste immer weiter nach hinten und es entsteht ein Teufelskreis, in dem die „Sans-facs“ fast chancenlos auf einen Studienplatz warten müssen.

 Eine Elitefabrik? – Die Kritik der „Sans-facs“

Durch die steigende Diskrepanz zwischen dem Hochschulsystem und den Bewerber*innen kommt es immer häufiger zu Kritik am System. Das „Sans-facs“ Kollektiv problematisiert die „soziale Selektion“ der Plattform und kritisiert, dass die Plattform eine „Elitefabrik“ sei und keine Chancengleichheit gewährleistet. Schüler*innen aus sozial benachteiligten Verhältnissen oder weniger renommierten Schulen hätten häufig schlechtere Chancen auf Universitätsplätze. Ihre Bewegung richtet sich konkret gegen diese Elitisierung. Viele Kritiker*innen bemängeln auch, dass die Ausschlusskriterien und Algorithmen nicht ausreichend offengelegt werden würden und das System so Ungleichheiten verstärken würde. Sie weisen darauf hin, dass die Plattform bestimmte Bewerbungen, wie von Stipendiat*innen nicht genug berücksichtigen oder gar wegfiltern würde. Dabei bemängeln sie außerdem die Studienplatzanzahl der französischen Unis. Argumentiert wird, dass der Staat die finanziellen Möglichkeiten hätte, das Hochschulsystem auszubauen und mehr Plätze anzubieten, dies aber nicht priorisiere.

Vergleichbar mit dem deutschen Hochschulsystem?

 Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland scheint das Aufnahmesystem für Universitäten an Inklusion zu mangeln. Da wo Parcoursup als intransparent kritisiert wird, gilt der Auswahlprozess durch den Numerus Clausus (NC) in Deutschland unter Kritiker*innen als zu einseitig. Obwohl viele Studiengänge in Deutschland zwar keinen NC verlangen, was den Zugang zu Universitäten erleichtert, müssen beide Systeme mit der Herausforderung kämpfen, soziale Ungleichheiten zu überwinden. Ein großer Unterschied der beiden Systeme ist die Handhabung der „akademischen Laufbahn“. In Frankreich ist das System darauf ausgelegt, dass Schüler*innen direkt nach dem Baccalauréat (dt. Abitur) mit dem Studium beginnen. So soll ihnen der unmittelbare Übergang ins Studium, durch die Priorisierung auf der Warteschlange auf Parcoursup, „vereinfacht“ werden. Das Prinzip erschwert es jedoch, zu einem späteren Zeitpunkt einen Studienplatz zu erhalten. In Deutschland können Studienbewerber*innen, die zunächst keinen Platz in einem zulassungsbeschränkten Fach erhalten haben, teilweise über das Prinzip der Wartesemester ihre Chancen auf einen Studienplatz verbessern. Dieses System könnte die  Chancengleichheit etwas erhöhen, wurde seit der Bildungsreform 2022 jedoch auch eingeschränkt und betrifft nur noch ausgewählte Studienfächer wie beispielsweise BWL, Jura und Psychologie. In medizinischen Studiengängen haben Wartezeiten keine Relevanz mehr. Derzeit gibt es keine offiziellen Pläne, das französische Hochschulzulassungssystem Parcoursup oder auch das deutsche System in naher Zukunft umzugestalten. Bewegungen wie die der „Sans-facs“ geben jedoch Hoffnung für eine inklusivere Studienzukunft.


Foto: Sara Walker