Im Vorfeld der Bundestagswahl wird in ganz Deutschland gegen den Rechtsruck demonstriert. Doch wie fühlt es sich an, wenn man aufgrund einer Behinderung sein Demonstrationsrecht nicht ausleben kann? Unsere Autorin berichtet.

Ich öffne morgens die Social-Media-Plattform meiner Wahl. Ich sehe die Fotos und Videos der Abertausenden von Menschen, die zu der Melodie von „Hejo, spann den Wagen an“ antifaschistische Lieder anstimmen. Ihre Proteste richten sich gegen den allgemeinen Rechtsruck, der immer mehr zunimmt und der sich durch die in weiten Teilen des Landes immer weiter nach oben kletternden Prozentzahlen der AfD zeigt, sowie gegen die gemeinsame Abstimmung von CDU und AfD, durch die das „Zustrombegrenzungsgesetz“ in den Bundestag gebracht werden konnte. „Wir sind die Brandmauer!“ ist bei den Demonstrationen oft die Devise. Soll heißen: Auch wenn die Brandmauer zur AfD zu bröckeln beginnt und an manchen Stellen vielleicht schon eingerissen wurde – wir halten dagegen.

Es macht mir Hoffnung, all diese Menschen auf den Straßen zu sehen. Eltern gehen mit ihren Kindern zur Demo. Alte Menschen sind genauso dabei wie junge. Wenn man sich die Videos  anschaut, könnte man denken, ganz Deutschland würde momentan gegen Rechts demonstrieren. Ganz so ist das natürlich nicht, was die aktuellen Umfragewerte zur Bundestagswahl zeigen. Dennoch macht sich bei mir ein Hoffnungsschimmer breit – und ein bisschen stolz bin ich auch. Auf diejenigen, die sich auch bei den kältesten Temperaturen mit ihren Schildern draußen hinstellen und laut sind. Auf diejenigen, denen es mental gerade nicht gut geht und die trotzdem zu den Demos gehen. Auf diejenigen, die nach einer vollen Arbeitswoche mit teilweise mehr als 40 Stunden an den Wochenenden noch ihre Stimme nutzen.

Gleichzeitig versetzt es mir aber auch einen Stich, die Menschen zu sehen, die so gemeinschaftlich für eine Sache demonstrieren. Auch ich wäre gern Teil von ihnen. Auch ich würde gern an den Demonstrationen teilnehmen und laut sein. Ich lebe mit vestibulärer Migräne, Agoraphobie, Autismus-Spektrum-Störung und ADHS – alles Krankheiten beziehungsweise Störungsbilder, bei denen die Reizverarbeitung beeinträchtigt ist. Große Menschenansammlungen sind für mich die Hölle. Es ist mir schlichtweg nicht möglich, an Demonstrationen wie diesen teilzunehmen. Da kommt bei mir die Frage auf: Wie inklusiv sind solche Großveranstaltungen?

Ich habe mit Pia Witthöft von der Mutstelle der Lebenshilfe Berlin gesprochen. Die Mutstelle ist eine Beratungsstelle für sexualisierte Gewalt bei Menschen mit Lernschwierigkeiten. In ihrer Arbeit dort hat Witthöft einige Erfahrungen gesammelt, wie man Demos inklusiver gestalten könnte. So ist die Mutstelle etwa bei One Billion Rising vertreten. Dies ist eine jährlich am 14. Februar stattfindende Tanz-Demo gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. Witthöft erzählt, dass sie, um die Demo inklusiver zu gestalten, unter anderem Tanzworkshops mit vereinfachter Choreografie anbiete. Des Weiteren seien sie als Mutstelle immer mit einem Infostand vor Ort, sodass es einen möglichen Treffpunkt gibt.

Darüber hinaus spricht sie sich für Awareness-Teams und einfache Sprache bei solchen Veranstaltungen aus. Witthöft sagt, Aktionen im Vorfeld der Demos könnten weiterhin sinnvoll sein, damit sich die Personen, die teilnehmen wollen, mit den Themen aber auch der Form der Demo vertraut machen können. Ebenso könne es für einige Teilnehmer*innen, die besonders sensibel auf Lärm oder Menschenmengen reagieren, hilfreich sein, sich alternative Routen sowie Parks oder Cafés vorzumerken, um sich phasenweise rausziehen zu können. Auch eine Art „Notfall-Kit“ mit Snacks, Getränken und gegebenenfalls Notfallmedikamenten könne helfen, ebenso wie eine vertraute Bezugsperson.

Wichtig sei letztendlich, sich insgesamt nicht zu viel vorzunehmen, eher am Rand zu bleiben und rechtzeitig auf Stress-Signale zu reagieren, die eine Überforderung ankündigen, um gar nicht erst in einen Krisenmodus zu geraten. Im Zweifelsfall sei es dann eine gesunde Entscheidung, einfach wieder nach Hause zu gehen. „Auch wenn man das alles vielleicht gar nicht benötigt, kann es beruhigend sein, sich vorzubereiten. Je weniger Stress ein Termin vorab auslöst, desto größer ist dann auch der Spielraum vor Ort“, so Witthöft.

Ich will protestieren. Ich will mein Privileg als weiße Person nutzen und laut sein. Ich will gegen den Faschismus auf die Straßen gehen. Ich will für unsere Rechte einstehen. Für meine Rechte als queere, behinderte Frau, aber auch für die Rechte anderer. Für die Rechte derjenigen, die zu uns kommen und bei uns Schutz suchen. Für die Rechte der queeren Kinder und Jugendlichen, die sich nicht mehr sicher fühlen. Für die Rechte von Mädchen und heranwachsenden Frauen, deren Selbstbestimmung auf der Kippe steht. Klar, kann man auch anders aktivistisch aktiv sein und sich politisch engagieren. Ich muss nicht unbedingt auf die Straße gehen, um einen Einfluss zu haben. Heutzutage gewinnen die sozialen Medien im Aktivismus immer mehr an Bedeutung. Man kann Beiträge teilen, reposten, Petitionen unterschreiben und verlinken und so weiter. Natürlich kann man auch Organisationen oder gar Parteien beitreten und dort in die aktivistische beziehungsweise politische Arbeit gehen.

Doch seien wir ehrlich: Es geht bei Demonstrationen im öffentlichen Raum nicht nur darum, etwas zu bewegen, sondern auch darum, seiner Wut und Verzweiflung über die aktuelle politische Lage Luft zu machen. Um ein kathartisches Gemeinschaftsgefühl zu spüren. Dieses Gemeinschaftsgefühl kommt bei mir nicht auf, so viele unterstützenswerte Petitionen ich auch unterschreibe, denn das passiert ganz allein. Still. Im Privaten.

Foto: Christian Lue / Unsplash