Im April sind die Räumlichkeiten der Moskauer Studierendenzeitung DOXA durchsucht worden – vier Redakteur*innen wurden unter Hausarrest gestellt. Doch das hält die Redaktion nicht von ihrer Arbeit ab, wie uns DOXA-Redakteurin und Studentin Arina Gundyreva erzählt. Wir haben uns mit ihr über die aktuelle Situation in Russland, über DOXA, sowie über das studentische Leben unter politischem Druck unterhalten.
Die Zeitschrift DOXA wurde 2017 von Studierenden der Higher School of Economics (HSE) und anderer Moskauer Hochschulen gegründet. Ihre Redakteur*innen schreiben über problematische Themen wie Harassment an Hochschulen und setzen sich für gerechte Wahlen in Russland ein.
Am 14. April 2021 haben russische Polizeikräfte die Redaktion von DOXA und die Wohnungen ihrer Redakteur*innen Armen Aramjan, Alla Gutnikova, Vladimir Metelkin und Natalja Tischkevich durchsucht. Ihnen wird vorgeworfen, ein Video anlässlich der Protestbewegungen in Russland im Januar 2021 veröffentlicht zu haben, in dem sie angeblich Minderjährige rechtswidrig zu Protesten angestachelt haben sollen. Eine Verurteilung sieht unter anderem eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vor.
UnAuf: Was passiert gerade in Russland, der HSE, und insbesondere mit DOXA?
Arina Gundyreva: Momentan sind unabhängige russische Medien einem sehr starken Druck ausgesetzt. Der Vorfall mit DOXA ist nur eines von vielen Ereignissen. Seit der Gründung der Zeitschrift 2017 haben wir immer mehr Druck zu spüren bekommen, bis schließlich dieses Jahr einige unserer Redakteur*innen verhaftet wurden. Ursprünglich war DOXA als eine studentische Zeitung angedacht. Dafür erhielten wir zunächst eine kleine Finanzierung seitens der Uni. Diese wurde jedoch 2019 eingestellt. Grund dafür war eine Kampagne, die DOXA zur Unterstützung von Yegor Zhukov, einem verhafteten Studenten der HSE initiiert hatte. Zu dem Zeitpunkt liefen die Wahlen für die Moskauer Stadtduma (Moskauer Regionalparlament). Als einige der unabhängigen Kandidat*innen jedoch nicht zugelassen wurden, sind die Leute auf die Straßen gegangen. So auch Yegor Zhukov (ein HSE-Student, der einen kritischen Blog betrieb und später zu einer Bewährungshaftstrafe verurteilt wurde, Anm. d. Red.). Als Folge dieser Kampagne haben wir den Status einer studentischen Zeitschrift verloren. Seitdem gelten wir als unabhängig und finanzieren uns durch Spenden.
UnAuf: Habt ihr euch bereits vor der Kampagne zur Unterstützung von Yegor Zhukov politisch geäußert?
Arina: Nein, ursprünglich war DOXA nicht als journalistisches Medium angedacht. Am Anfang wurden wissenschaftliche Beiträge, Übersetzungen von Forschungsartikeln und Filmrezensionen veröffentlicht. Die erste Warnung erhielten wir erst nachdem wir den Artikel über die Stadtratswahlen veröffentlichten. Das war auch die Ursache, weshalb die HSE DOXA letztendlich ausgeschlossen hat.
UnAuf: Gab es neben dem Entzug der Finanzierung noch weitere Sanktionen seitens der HSE?
Arina: Es gab keinerlei Exmatrikulationen. Die Uni hat keinen weiteren Druck auf unsere Redaktion ausgeübt. Es ist nur so, dass DOXA eben nicht mehr als Teil der HSE angesehen wird.
UnAuf: Der Ausschluss von DOXA durch die HSE war die erste Warnung. Die zweite folgte dann mit eurem Video zur Unterstützung der Studierenden, die an den Protesten im Januar 2021 teilgenommen haben. Was war in dem Video?
Arina: Vor den Protesten haben wir eine Hotline gestartet, bei der uns Studierende aus allen Regionen von dem Druck berichten konnten, der von ihren Unis im Zusammenhang mit den Protesten ausging. Unter anderem wurde mit Exmatrikulationen bei Prüfungen gedroht. Als Reaktion haben wir ein Video online gestellt, in dem wir die Studierenden aufgefordert haben, keine Angst zu haben. Denn oft haben diese Drohungen gar keine gesetzliche Grundlage. Im Video gab es aber keine Aufforderung, zu Demonstrationen zu gehen.
UnAuf: Im April wurden eure Redakteur*innen Armen, Alla, Wladimir und Natalja verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Warum „nur“ diese vier?
Arina: Das hängt damit zusammen, dass gerade diese vier Redakteur*innen im Video zu sehen waren. Anders können wir es uns nicht erklären. Unsere Redaktion ist horizontal aufgebaut, sodass die Verantwortung zwischen allen Beteiligten gleichermaßen verteilt ist.
UnAuf: Du hast gesagt, ihr macht unter anderem aktivistische Arbeit. Aktivismus und Journalismus sind aber nicht ganz dasselbe. Wie würdest du das Ziel von DOXA formulieren?
Arina: Was DOXA so einzigartig macht, ist gerade, dass wir wissen, wie man Journalismus und Aktivismus in Einklang bringt. Wir machen gute investigative Berichterstattung und halten uns dabei an alle Regeln des Journalismus, einschließlich der Ethik. Aktivismus bedeutet, dass wir die Themen anpacken, vor denen man Angst hat, wie etwa Harassment an Hochschulen. Ich würde nicht sagen, dass DOXA eine mega aktivistische Agenda hat. Wir sprechen nur über die Probleme, die innerhalb der Unis bestehen. Das heißt, wir versuchen nicht diese Probleme zu lösen, denn das ist nicht unsere Aufgabe.
UnAuf: Was motiviert euch, die Augen offen zu halten? Wie können Studierende keine Angst haben, besonders die, die in den kleineren Städten wohnen?
Arina: Das ist eine komplizierte Frage. Ich denke, alle haben Angst. Natürlich habe auch ich manchmal Angst. Besonders nach all diesen Durchsuchungen schlafe ich schlecht. Angst ist eine normale Reaktion, aber es gibt Zeiten, in denen die Wahrheit wichtiger ist und man nicht anders kann, als über das Problem zu sprechen. Schweigen mag kurzfristig auch funktionieren, aber langfristig wird das Problem nur noch schlimmer. Wie kann man keine Angst haben? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich denke aber, dass die Mündigkeit hilft. Denn das Gefühl, mit diesem Problem nicht allein zu sein, ist sehr ermunternd. Auch juristische Kenntnisse helfen, denn schließlich haben alle diese Drohungen oft keine rechtliche Grundlage.
UnAuf: Ist es vielleicht die Angst vor der Gesetzlosigkeit?
Arina: Nein. Die Gesetzlosigkeit ist mittlerweile eine Realität, an die man sich gewöhnt hat. Man beruft sich zwar auf das Gesetz, erwartet aber nicht, dass alles legal abläuft.
UnAuf: Hattest du Angst, bevor du angefangen hast, dich im Rahmen von DOXA politisch zu äußern?
Arina: Ich hatte sehr viel Angst als ich eine bloße Beobachterin von all dem war, was vor sich ging. Ich hatte das Gefühl, man hätte alles mit mir machen können. Aber wenn man anfängt, aktiv zu sein, verschwindet die Angst.
UnAuf: Wie reagieren deine Eltern auf deine Tätigkeit?
Arina: Meine Eltern haben mehr Angst als ich. Zu Hause versuchen wir, nicht darüber zu sprechen. Meine Mutter unterstützt mich in allem, auch wenn sie sich Sorgen macht. Papa sagt, dass ich mein Studium erstmal in Ruhe absolvieren muss. Allerdings gibt er mir auch die Freiheit, das zu tun, was ich möchte.
UnAuf: Wie schaffst du das, deine Tätigkeit bei DOXA und dein Studium in einem solchen Tempo unter einen Hut zu bringen?
Arina: Ich weiß es nicht, das ist eine sehr komplizierte Frage (lacht). Für DOXA zu schreiben und an der Kampagne [für die Befreiung der vier Redakteur*innen von DOXA, Anm. d. Red.] zu arbeiten, sind zwei völlig unterschiedliche Tätigkeiten. Die eine Sache ist, Artikel zu schreiben, und eine ganz andere, eine Kampagne zu führen, bei der man ständig mit Aufgaben bombardiert wird. Gestern war die Deadline für meine Hausarbeit, mit der ich erst irgendwann nachts fertig war. Obwohl meine Professor*innen sehr loyal sind, fehlt es mir trotzdem an Struktur und Zeit.
UnAuf: Die HSE unterstützt euch also doch?
Arina: Ja, aber es ist wichtig zu verstehen, dass es zwei Seiten der HSE gibt. Die eine Seite sind die verständnisvollen Lehrkräfte, aber die andere ist die Verwaltung, die gar nicht unterstützend ist und sogar Druck auf die Professor*innen ausübt.
UnAuf: Was wird als nächstes passieren? Habt ihr Hoffnung auf eine Zukunft ohne Einschränkungen der Meinungs- und Handlungsfreiheit in Russland?
Arina: DOXA wird weiterarbeiten. Das Tempo werden wir so beibehalten. Unsere Arbeitsteilung funktioniert super – es wird also nicht alles auseinanderfallen, wenn jemand aus der Redaktion “rausgezogen” wird. Ich persönlich habe die Hoffnung auf Meinungsfreiheit in Russland. Ich habe sogar das Gefühl, dass wir diese Hoffnung geben, weil wir über Themen sprechen, die den Leuten widerfahren und mit denen sie sich identifizieren können.
UnAuf: Warum ist dieses Interview für internationale Studierende so wichtig?
Arina: Wir befinden uns in einer einzigartigen Situation, in der wir neben unserem Studium auch noch andere bedeutsame Dinge tun, die den politischen Vektor beeinflussen. Es ist wohl eher eine unübliche Situation für deutsche Studierende, ihr Studium unter Hausarrest absolvieren zu müssen. In einer idealen Welt würde niemand von uns jemals mit „Kriminalität“ in Verbindung gebracht werden, aber tja, sowas passiert. Leider ist das nicht nur in Russland möglich, sondern überall. Das geschah auch mal in Deutschland. Man muss den Prozessen nachgehen, die an der eigenen Uni, im eigenen Land ablaufen. Deshalb ist es wichtig, sich die Erfahrungen von Studierenden aus anderen Ländern anzusehen.
UnAuf: „Sowas passiert“ ist eine passende Formulierung.
Arina: Ja, weil man persönlich nicht daran schuld ist. Ich vergleiche es mit sexualisierter Gewalt gegen Frauen. Du kannst eine ganz normale Frau sein und trotzdem Gewalt erleben. Es ist nicht die Schuld der Frau, sondern die Schuld des Systems und der Gesellschaft. So ist es auch mit unseren Redakteur*innen, die unter Hausarrest sind: Armen hat mehrere Bücher übersetzt, Alla schreibt gerade an ihrem Diplom, Wolodja spielt Gitarre und Natascha programmiert. Sie sind super Studis und das alles ist trotzdem mit ihnen passiert. Aber es ist eben nicht ihre Schuld, es ist die Schuld des Systems.