Wie kann man christlich und links sein? Die Anhänger*innen des Christentums gelten doch oft als konservativ. Dass Christsein jedoch auch Linkssein bedingen kann, zeigen die Geschichten von Lissi, Angelica und Jonathan.
Das warme Licht in Lissis Wohnzimmer ist gedimmt. Auf dem Tisch stehen Kekse, Schokolinsen und zwei Gläser Wasser. Der Stuhl, auf dem sie sitzt, kommt aus dem Theater am Kurfürstendamm – es ist ein alter Theatersessel. Lissi ist Studentin an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität und ein ehrenamtliches Chamäleon: Neben ihrer Arbeit im Besuchsdienst des jüdischen Krankenhauses und als Telefonseelsorgerin für einsame Berliner*innen, ist sie Bürger*innendeputierte der Bezirksvollversammlung (BVV) Berlin-Mitte im Ausschuss „Soziale Stadt“ der Linken.
Ich kenne Lissi aus dem Jungen Kreis meiner evangelischen Kirchengemeinde, eine Runde an jungen Menschen, die sich zum (geistlichen) Austausch trifft. Als wir eines Abends gemeinsam nach einem der Treffen ein Stück nach Hause gingen, berichtete sie mir, dass sie sich ehrenamtlich bei der Linken engagiert. Doch wie passt das zusammen, als gläubige Christin in einer Partei, die Religion als „Opium des Volkes“ versteht?
„An allererster Stelle bin ich Christin“, betont sie. „Wenn aber Themen wie Armut oder soziale Gerechtigkeit dort angesprochen werden, dann ist das meine Partei.“ Und diese hat sie in der realpolitischen Arbeit bei der Linken gefunden. Es sind Themen, die im Zentrum des Christentums stehen: Sich um diejenigen Menschen zu kümmern, die in Not sind. Bei Lissi gab es daher erst den Wunsch, sich für diese Personen einzusetzen und dann hat sie die passende Partei gesucht. Doch bis heute ist sie kein Mitglied der Linken. Das zeigt die Zweitrangigkeit des politischen Labels – und die Abneigung gegen Parteiarbeit. Lissi ist nicht um des Linksseins Willen links, sondern, weil sie gläubig ist.
Politisches Christentum
Ähnlich ergeht es Angelica. „Ich bin politische Christin“, sagt sie voller Inbrunst. Sie kann Politik und Glaube nicht trennen.1965 in Leipzig geboren, ist sie durch die katholische Diaspora Ostdeutschlands in der DDR geprägt worden. Enttäuscht von der Haltung der evangelischen Kirche gegenüber der DDR, konvertierten ihre Eltern bereits vor ihrer Geburt hin zum Katholizismus. „Ich musste mich immer mit meinem Glauben auseinandersetzen“, kommentiert sie die Lebensrealität als Gläubige in der DDR. Denn Mitglied einer Kirche zu sein, brachte vor allem weltliche Nachteile mit sich: Ausschluss von einer universitären Ausbildung, Benachteiligung in der Schule, sowie gesellschaftliche und soziale Ausgrenzung. Doch in ihrem Elternhaus wurde der Glaube nicht streng religiös praktiziert. „Der Glaube wurde mir nicht mit der Muttermilch mitgegeben“, sagt sie lächelnd. Stattdessen fanden am Küchentisch rege Diskussionen statt – über die Religion und Politik. Zum eigenen Glauben fand sie über Kirchenmusik – Bach hat es ihr bis heute angetan. Zum Linkssein fand Angelica nicht wegen der DDR, sondern trotz dieser. Wie für Lissi folgt das Linkssein auch bei ihr mit einer zwingenden Notwendigkeit aus dem Glauben heraus.
Als Kind linker Theolog*innen kennt Jonathan die kontroversen Diskussionen am Esstisch. Er ist Philosophiestudent, der in der Katholischen Studierendengemeinde Berlin eine Heimat gefunden hat. „Ich bin links wegen meiner Eltern und meiner Geschwister“, sagt er über sich selbst. Doch wie auch für Angelica und Lissi ist für Jonathan Links- und Christsein unmittelbar miteinander verbunden, es bedingt sich gegenseitig. Trotz und wegen seiner familiären Prägung ist er heute der Meinung: Wer Christ ist, ist politisch. Und wer Christ und politisch ist, muss linkspolitisch sein. Zumindest nach seinem Verständnis des Christentums. Denn dazu gehört vor allem eines: Nächstenliebe. Und wer diese radikal lebt, begibt sich automatisch auf politisches Terrain. Und dieses ist meist links.
Eine 2000 Jahre alte Geschichte des Widerstands
Obwohl Jesus nicht als Politiker bekannt ist, ist seine politische Wirkung nicht zu leugnen. Sieht man sich die Aufzeichnungen von Christus in den Evangelien an, wird schnell ersichtlich, woher die Verknüpfung von Glaube und Politik stammt. Entgegen den gesellschaftlichen Normen trat er in den Widerstand – gegen (soziale) Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Gewalt. Wer sich den Ausgestoßenen zuwendet, und dabei selbst einer wird, drückt eine klare politische Haltung aus. Und wer heute für soziale Gerechtigkeit, Pazifismus, Offenheit und Umweltschutz einstehen möchte, um Jesus Beispiel zu folgen, ist notwendigerweise linkspolitische*r Christ*in.
Diese Haltung des Widerstands teilen Angelica, Lissi und Jonathan. Es ist einerseits ein Widerstand, der nach Außen hin gerichtet ist: Bei wohnungslosen Menschen auf der Straße nicht wegsehen, harte Schicksale an das eigene Herz lassen, auf Demonstrationen für Frieden, Klimagerechtigkeit und Demokratie einstehen und in der Politik die Dinge zugunsten der sozialen Gerechtigkeit bewegen. Doch es ist ebenso ein innerer Widerstand: Gegen die Institution Kirche.
„Ich möchte der Kirche ein Dorn im Auge sein“, verkündet Jonathan. Es ist Widerstand, der von Hoffnung getragen wird. Der Hoffnung, dass man Dinge verändern kann und die Welt eine gerechtere wird, wenn auch nur ein kleines bisschen.
Angelica kann sich dem nur anschließen: „Wir brauchen eine Rückbesinnung zum Evangelium“, sagt sie über die Kirche. Eine Rückbesinnung zu denjenigen Taten der Nächstenliebe, die so bezeichnend für das Christentum und scheinbar verloren gegangen sind.
Relevanzverlust der Kirchen?
Das kirchliche Werk der Nächstenliebe zeigt sich heute vor allem in den sozialen Angeboten kirchlicher Träger. So befanden sich 2023 31,3 Prozent der Kindertageseinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft, die Eigentümer sind beispielsweise Diakonie oder Caritas. Aber auch Angebote wie Drogenpräventionsarbeit in Schulen, Krankenhäuser, Pflegedienste oder Selbsthilfegruppen sind oft an die Kirche gebunden. Konkret bedeutet das, dass soziale Einrichtungen und Angebote in Verbindung zur Kirche stehen. Somit können sie neben staatlichen Fördermitteln, Leistungsentgelten (wie die Kita-Gebühren) und Spenden auch auf Kirchensteuermittel zugreifen, um sich zu finanzieren.
Wenn man der Zahl der Kirchenaustritte glaubt, so nimmt die Relevanz zumindest innerhalb der Gemäuer drastisch ab. Laut Statista traten im Jahr 2022 in den Evangelischen Landeskirchen und der Römisch-Katholischen Kirche insgesamt 902.821 Menschen aus. Ein neuer Rekordwert, der zeigt, dass der gesellschaftliche Rückhalt immer weiter schwindet.
Jonathan sieht an dieser Stelle die Kirchen in der Pflicht, etwas zu verändern, gerade was das Priesteramt in der katholischen Kirche anbelangt. Es müssten Reformen her, meint er. Kirche müsse offener, inklusiver und zeitgemäßer werden. Angelica sieht das ähnlich. „Ich mag die Begriffe links und rechts eigentlich nicht so sehr“, gesteht sie. Für sie ergibt es mehr Sinn von „Abenteurer*innen“ und „Bewahrer*innen“ zu reden, Begriffe, die eine innere Haltung widerspiegeln, ohne zu werten. Gerade in der katholischen Kirche sei zu beobachten, dass es ein Übermaß an Bewahrer*innen gibt. Es fehlt an Menschen, die bereit sind, Wege ins Unbekannte zu gehen.
Angelica, Lissi und Jonathan sind sich einig: „Die Institution Kirche muss sich ändern.“ Und sie alle kämpfen im Kleinen dafür: im Ehrenamt, in einer Partei, im Beruf, auf Demonstrationen. Und das, weil sie links und gläubig sind. Diese Geschichten des Widerstands gegen die Institution Kirche, die undifferenzierte Wahrnehmung der Öffentlichkeit und gegen die Apathie der Bevölkerung machen Mut. Denn sie zeigen den Veränderungswillen aus bedingungsloser Liebe heraus.
Zu Ende unseres Gesprächs hat Angelica einen Appell. Die Revolution der Nächstenliebe lässt sich nämlich nicht allein bewerkstelligen – und fängt doch bei einem selbst an. „Denkt!“, fordert Angelica. Ganz nach Immanuel Kant: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.
Illustration: Renata Velasco