Mit ihrer Position als leitende Dramaturgin am Berliner Ensemble hat Sibylle Baschung eine bedeutende Position in der deutschen Theaterlandschaft inne. Im Interview mit der UnAuf spricht sie über das Zusammenspiel von Politik und Kunst und reflektiert über die Bedeutung des Linksseins im Theater.
UnAuf: Wie politisch ist Ihre Arbeit als Dramaturgin?
Sibylle Baschung: Wenn man Politik als eine Praxis begreift, die verbindliche Entscheidungen für das Zusammenleben einer Gesellschaft trifft, dann ist meine Arbeit nicht politisch. Das tue ich nicht, ich schreibe ja keine Gesetze. Wenn man Politik aber auch als eine Praxis versteht, die zu einer öffentlichen Meinungs- und Willensbildung beiträgt, dann ist meine Arbeit durchaus politisch. Theater ist ein öffentlicher Raum, in dem Themen und Konflikte künstlerisch verhandelt werden, in dem Fragen gestellt und Diskussionen angeregt werden können. In diesem Sinne suchen wir in der Dramaturgie auch immer wieder nach Stoffen, die mit Fragen, Themen und Konflikten zu tun haben, die man auf unsere Gegenwart beziehen könnte. Es ist daher in unserem Beruf unerlässlich, sich zu informieren und zu verstehen, welche gesellschaftspolitischen Diskurse gerade wie geführt werden.
Wie betrachten Sie das Zusammenspiel von Kunst und Politik im Theater?
Theaterarbeit ist in erster Linie eine künstlerische Praxis und als solche ein Teil unserer demokratischen und rechtsstaatlichen Öffentlichkeit. Wir stellen Themen und Konflikte in den Raum, um sie spielerisch und künstlerisch zu be- und verarbeiten, und im besten Fall Diskussionen anzustoßen. Zudem spricht Kunst Menschen auf einer sinnlichen Ebene an und kann sie auf dieser Ebene zusammenführen. Sie kann Schlaglichter auf etwas werfen, und so die Aufmerksamkeit für bestimmte Themen erhöhen oder sich gar an der Aufklärung gewisser Zusammenhänge und Hintergründe beteiligen, muss das aber nicht. Natürlich gibt es auch aktivistisches Theater und Agitprop, eine Form der dramatischen Darstellung zur Verbreitung ideologischer Botschaften. Die Kunst ist in erster Linie frei und im Unterschied zur Politik nicht zweckgebunden.
Welche Bedeutung hat das Konzept des „Linksseins“ in Ihrer Arbeit?
Mich interessiert das Konzept der individuellen Freiheit in erster Linie in Bezug auf die Frage, innerhalb welcher gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen Freiheit gelebt werden kann, ohne das Gemeinwesen aus den Augen zu verlieren. Wenn diese Haltung „links“ ist, dürfen Sie mich gerne da zuordnen. Theater lebt einerseits von eigensinnigen, individualistischen Persönlichkeiten. Es lebt aber andererseits ebenso von Zusammenspiel und von Ensemblearbeit, und zwar quer durch alle Berufe am Theater, die am Ende alle auf etwas Gemeinsames hinarbeiten. Und diese gemeinsame Sache, die Kunst, ist das Ziel, das zählt – in dem Bemühen, dass die Beteiligten darin genügend Entfaltungsfreiraum haben.
Wenn wir jetzt konkret auf die dramatische Kunst schauen, sind die besten Dramen die, in denen jede Figur sich gleichzeitig mit etwas ins Recht und ins Unrecht setzt. Derartig dargestellte Konflikte führen im Wesentlichen zu der Frage nach den grundsätzlichen rechtlichen, materiellen und ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen der Konflikt dieser Individuen stattfindet. Es geht nicht mehr darum, wer Recht oder Unrecht hat, sondern ob eventuell an den Grundbedingungen etwas verändert werden müsste, damit sich der Konflikt löst. Das ist eine dialektische Herangehensweise. Und wenn dialektisches Denken links ist, dann ist meine Arbeit auch insofern links.
Welche Verantwortung empfinden Sie als Künstlerin und als Teil einer renommierten Theaterinstitution zur Förderung von gesellschaftlichem Wandel?
Es gibt hier zwei Ebenen: Zum einen sind wir ein ganz normaler Arbeitgeber und Betrieb, in dem wir uns mit gesellschaftlichem Strukturwandel auseinandersetzen müssen. Zum anderen gibt es die Kunst, also das, was wir auf der Bühne tun. Auf beiden Ebenen ist ein rundum inklusives Theater in einer vielfältigen Gesellschaft ein sehr überfordernder, aber trotzdem sinnvoller Anspruch, selbst wenn wir ihn schwerlich jemals erreichen werden. Wir bemühen uns darum, Barrieren zu senken, sowohl auf finanzieller als auch auf kommunikativer und technischer Ebene, auch wenn das noch nicht perfekt klappt. Es ist mir auch wichtig, ein inhaltlich und ästhetisch möglichst vielseitiges Programm anzubieten, in dem für viele unterschiedliche Interessen etwas dabei ist. Grundsätzlich geht es mir auf beiden Ebenen um Vielfalt und um verschiedene Perspektiven.
Werden Sie dabei von politischem oder öffentlichem Druck beeinflusst, insbesondere wenn bestimmte Themen oder Ansichten als kontrovers oder sensibel empfunden werden?
Als Dramaturgin bin ich die erste Zuschauerin. Ich gebe Feedback und versuche zu spiegeln, wie ich das Gespielte wahrnehme und interpretiere. Natürlich bin das aber immer ich, und jemand anderes kann das auch ganz anders sehen. In diesem Sinne versuche ich, zu reflektieren und dem Team zu spiegeln, wie das Gespielte im Publikum ankommen könnte. Da gibt es auch blinde Flecken. Ich bemühe mich, achtsam zu sein, mit welcher Haltung ich diese behandele, und wenn ich unsicher bin, hole ich mir Rat von außen. Gleichzeitig muss es auch möglich sein, verschiedene Sichtweisen auf der Bühne zu zeigen, und es muss möglich sein, Figuren zu spielen, die Verletzendes sagen. Das ist Theater. Wichtig ist, das nicht unkommentiert oder unwidersprochen im Raum stehen zu lassen.
Also ist es gut, wenn Kontroversen entfacht werden?
Es wäre mein Ziel! Das gehört zum politischen Beitrag von Theater, zur Aufgabe der Meinungs- und Willensbildung. Kunst kann Menschen auf der sinnlichen und spielerischen Ebene ansprechen und so Wahrnehmungs- und vielleicht auch Denkmuster anpacken. Sie kann sie entweder bestätigen oder erschüttern, oder auch nur ein bisschen daran kratzen. Und dazu muss sie möglichst kontrovers sein.
In einem früheren Interview mit der UnAuf haben Sie ihre Arbeit am Theater vor allem mit dem Schlagwort „Konflikt” beschrieben – Wie navigieren Sie bei politischen Stücken unterschiedliche Perspektiven und Meinungen innerhalb des Ensembles?
Die meisten Konflikte rühren eigentlich von der Entscheidung, welche Vorlagen wir aussuchen, und sind selten politischer Natur. Wenn man einen guten Text auswählt, dann ist der Text an sich kontrovers. Das beinhaltet, dass es unterschiedliche Erzählstränge und unterschiedliche Figuren mit unterschiedlichen Haltungen gibt, die miteinander in Konflikt geraten. Dieser Konflikt wird dann dem Publikum übergeben, und das Publikum muss selber gucken, wie es dazu steht. Wir geben keine Lösung vor. Deswegen gibt es, was das anbelangt, eigentlich keine unlösbaren Konflikte bei uns. Die härteren Auseinandersetzungen haben eher mit der Kunst an sich oder der Form zu tun: Wie spiele ich das jetzt? Wie gut ist der Text? Wie gut lässt sich das sprechen? Wie gut ist die Bühne oder die Idee, die die Regie gerade hatte? Wie kann ich damit umgehen?
Kritiker behaupten, das politische Theater sei größtenteils sinn- und wirkungslos. Wie schätzen Sie die Zukunft des politischen Theaters ein?
Diese Diskussionen gibt es wohl seit Jahrhunderten. Es ist wichtig, zu überlegen, welche Wirkung wir genau meinen, wenn wir über Wirkung reden. Gesellschaftlicher Wandel wird selten allein von Kunst angestoßen. Kunst, und so auch das Theater, spielt aber mit den Phänomenen der Welt, und dazu gehören natürlich auch politische Entscheidungen oder gesellschaftspolitische Konflikte. Es spricht dann über Sinnlichkeit die Wahrnehmung an und kann damit Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten in Bewegung bringen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Natürlich gibt es auch Theater, das „nur unterhält“. Dieser Form der Kunst wird dann meist Eskapismus vorgeworfen, aber ich finde auch das legitim.
Letztlich ist die künstlerische Praxis ein ureigenes Wesensmerkmal von uns Menschen, das nur mit Gewalt unterbunden werden kann. Jede Diktatur schränkt sofort die Kunstfreiheit ein – die Kunst muss also etwas an sich haben, das Diktaturen dazu veranlasst, sie zu reglementieren. Und allein daran ist schon abzulesen, welche Kraft Kunst hat, immer gehabt hat und auch immer haben wird.
Illustration: Lucia Maluga