Am 17.01.2023 fand in Kooperation mit der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) ein digitaler Austausch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj statt. Die UnAuf war mit Kamera und Stift vor Ort.

Zwischen Seminaren und Vorlesungen wurde in der Dorotheenstraße 24 eine Veranstaltung der etwas anderen Art abgehalten. Denn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war zu Besuch – per Zoom Meeting. Den Fritz-Reuter-Saal erfüllte eine ungewohnt formelle Stimmung. Zahlreiche Kameras waren auf die Versammlung gerichtet, die neben Student*innen aus Pressevertreter*innen und der HU-Präsidentin Julia von Blumenthal bestand. Auch der erst seit Herbst letzten Jahres amtierende ukrainische Botschafter Oleksij Makeiev war anwesend.

Stille kehrte ein, als das Gesicht des ukrainischen Präsidenten erschien, der in gewohnt sportlichem Look vor der allbekannten Kulisse seines Schreibtisches saß, hinter ihm zwei ukrainische Flaggen. 

Liebe Freunde

Julia von Blumenthal begann den Zoom Call mit einer Begrüßungsrede. Mit persönlicher Betroffenheit schilderte sie, wie das Warnsignal nach 2014 ignoriert wurde. Die Präsidentin, die selbst unter anderem Slavistik und Russistik studiert hat, fand, die EU solle östlicher werden und betonte ihre persönliche Unterstützung für einen Beitritt der Ukraine.

Mit ernster Miene und gelegentlichem Kopfnicken folgte der ukrainische Präsident den, vor allem von Berliner Seite, persönlich gehaltenen  Begrüßungsreden. Die Antworten Selenskyjs wurden von einer Dolmetscherin ins Deutsche übersetzt, sodass seine Stimme die ganze Veranstaltung über nicht zu hören war.

Dass ukrainischen Student*innen die nahtlose Weiterführung ihres Studiums in Deutschland ermöglicht wurde, begrüßte der Präsident sehr. Er bat die deutschen Student*innen darum, die jungen Ukrainer*innen herzlich zu behandeln, damit sie sich willkommen fühlen. Dabei richtete er sich direkt an die fragende Studentin und nannte sie beim Vornamen. Ehrenamtliche Arbeit wie ihre zeige, was es bedeutet, Mensch und zivilisiert zu sein. Selenskyj machte durchgängig von einer persönlichen Sprache Gebrauch, verzichtete auf einen überladenen, politischen Jargon. Liebe Freunde, hieß es, später noch: Ihr seid jung. Letzteres betonte er oft, auch wenn er von der düsteren Vergangenheit des Landes sprach; europäische Politiker*innen seien zu vorsichtig gewesen, sie hätten den russischen Imperialismus gedeihen lassen. Jüngere Generationen trügen nun die Verantwortung, eine Wiederholung der sowjetischen Herrschaft zu verhindern. Der Präsident zeigte sich zuversichtlich und entschlossen, den Krieg zu gewinnen und bekräftigte, er werde kein Stück Land aufgeben. Frieden könne es nur geben, wenn die Ukraine diesen Krieg gewinne. 

Doch es wurden auch kritischere Fragen gestellt: Zum EU-Beitritt der Ukraine wollte ein Berliner Student wissen, was es mit den Parteiverboten und Korruptionsvorwürfen im Lande auf sich habe. 

Selenskyj reagierte gewohnt gelassen und bedankte sich auch für diese Frage; in seiner Antwort schweifte er dennoch etwas ab. Die Kernaussage: Natürlich habe man besagte Parteien verbieten müssen, denn sie seien “von Russland finanziert” gewesen. Dass Kriegsunterstützer*innen nicht im Parlament sitzen dürften, liege auf der Hand – und stehe demnach einem EU-Beitritt nicht im Weg. Er zeigte sich zuversichtlich, dass in den nächsten Wochen und Monaten weitere Beitrittsvoraussetzungen erfüllt würden.

Die Front im Hörsaal 

Vorgesehen war eine ganze Stunde, in der die Student*innen die Chance bekommen sollten, Selenskyj ihre Fragen zu stellen – doch wegen eines ungeplanten Anrufes wurde die Veranstaltung unterbrochen. Ob Selenskyj zurückkehren würde, war niemandem klar. Stellvertretend übernahm der ukrainische Botschafter die Fragerunde. 

Oleksij Makeiev zeigte sich gelassen und beantwortete die Fragen auf eine Weise, die seinem Beruf als Diplomat alle Ehre machte.  Er kenne die alten Geschichten seiner Verwandten über die harten Winter im Zweiten Weltkrieg. Doch dieses Jahr ist mir klar geworden, dass wohl auch meine Tochter später ihren Kindern erzählen wird, wie sie Silvester dieses Jahres im Luftschutzbunker verbringen musste., schilderte er. Er könne die Angst und die Kritik an den Waffenlieferungen verstehen, er selbst habe vor Jahren auch nicht damit gerechnet, dass es in Europa wieder zu einem Krieg kommen würde. Doch der Krieg sei nun unsere Realität und dieser müsse man entgegenwirken. Diesbezüglich sei er auch zuversichtlich, dass mit dem neuen deutschen Verteidigungsminister Pistorius die Waffen schnell geliefert werden würden – obwohl er  vor dem Beantworten dieser Frage kurz zögerte.

Dann erschien Selenskyj wieder auf der Leinwand –  er ist zurück. 

Unmittelbar nachdem sich der Präsident mit warmen Worten verabschiedet hatte – er sei von der vielen Anteilnahme “berührt” gewesen – stieg der Lärmpegel wieder an. Alle ließen ihren Gedanken und Eindrücken freien Lauf: Denn das Foyer der Dorotheenstraße 24 war selten so voll – genauso wie die Köpfe der Student*innen, denn niemandem ist klar, wie der Krieg ausgehen wird. 

Patriotismus und Nationalstolz: Slawa Ukraini

Insgesamt war es ein spannender Austausch, der Student*innen der HU die Situation in der Ukraine näher vor Augen geführt hat. Es bleibt allerdings die Frage, was das Motiv Selenskyjs war, einer solchen Veranstaltung zuzustimmen. 

Es mögen politische Beweggründe ausschlaggebend gewesen sein, denn der Präsident hat die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, noch einmal für einen EU-Beitritt seines Landes zu werben. Der Ukraine wurde erst im Zuge des russischen Angriffskrieges am 24. Juni letzten Jahres der offizielle Kandidatenstatus zum EU-Beitritt zugesprochen. Bis zum Krieg hatte es da noch erhebliche Hürden gegeben. 

Was die Einstellung des ukrainischen Präsidenten allerdings von deutschen Befindlichkeiten unterscheidet, ist der Patriotismus, der bei jeder Gelegenheit durchstach. Auf die Frage einer jungen Ukrainerin hin, wann sie wieder zurückkehren könnte, erklärte Selenskyj mit Selbstverständlichkeit, dass die Rückkehr möglich ist, sobald die Ukraine wieder sicher sei. Er ergänzte, dass ukrainische Student*innen die wahren Patrioten seien und, dass für jeden jungen Menschen das eigene Land das Beste sei. Ein Statement, dem deutsche Student*innen mit gemischten Gefühlen gegenüberstehen. Dass nationale Einigkeit in einer Kriegssituation notwendig ist, ist hingegen durchaus verständlich. Zudem hat Nationalstolz in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion einen anderen Stellenwert. In einem Land, dessen Geschichte davon geprägt ist, unter grausamen Bedingungen die Eigenständigkeit verwehrt zu bekommen, hat Patriotismus einen kämpferischen Aspekt, was bei dem Gespräch deutlich wurde.
In Zusammenhang damit steht eine starke Generalisierung gegen den als unzivilisiert empfundenen Feind. So differenzierte er zum Beispiel nicht zwischen Staat und Volk. Auf uns deutsche Student*innen wirkte diese Wortwahl Selenskyjs mitunter befremdlich. Wiederum liegt es wohl abseits unseres Vorstellungsvermögens, welchen Grausamkeiten das ukrainische Volk momentan ausgesetzt ist. Wenn Patriotismus Menschen in dieser düsteren Zeit als ein Mittel der Ermächtigung dient, sollten wir uns nicht anmaßen, vorschnell darüber zu urteilen. 


Foto: Daphne Preston-Kendal