Junge Kunstschaffende, die noch auf der Suche nach ihrem individuellen Ausdruck sind, stehen ständig im Austausch mit inneren und äußeren Geschehnissen. In einem Land wie Griechenland, das von Polarisierung, Polizeigewalt und politischen Machtkämpfen geprägt ist, lohnt es sich, einen Blick auf die Kunstszene zu werfen. Ein Portrait der Kunststudentin Georgia Orfanidou. 

 Die Kunstfakultät der Aristoteles Universität wirkt unscheinbar, ein gewöhnlicher Betonbau mit rundem gläsernem Eingang. An der Seite des Gebäudes steht der Name „Tomas“. So wird dieser Ort unter den Studierenden genannt. Neben Bildhauerei und Malerei können hier auch die Fächer „Druck“ und „Neue Medien“ studiert werden. Der Eingang zu den Räumen der Bildhauerei-Klasse ist eher leicht zu übersehen: eine Tür, neben der ein Haufen aus zerbrochenen Paletten, Stühlen und anderem Sperrmüll liegt. Die Decken sind hoch, die Räume vollgestellt mit halbfertigen Skulpturen, Werkzeugen und Materialien. 

Daneben steht ein Tisch, auf dem die 21-jährige Kunststudentin Georgia kleine Wachsfiguren ausbreitet, welche an Stalaktiten in Tropfsteinhöhlen erinnern. An manchen Enden ist noch der Docht zu erkennen, über den Schicht für Schicht das Wachs geflossen und dann erstarrt ist. Die Oberfläche ist glatt, fast weich. Das Material schmiegt sich sofort an die Finger und verströmt einen warmen, markanten Geruch, ähnlich wie die Seiten eines alten Buchs. 

Das Wachs sei aus den orthodoxen Kirchen, erklärt Georgia. In jeder Kirche gibt es Kerzen aus Bienenwachs, die in Gedenken an jemand Geliebten angezündet werden. Das übriggebliebene Wachs wird weggeschmissen, daraus macht die Künstlerin ihre Skulpturen. „Es ist ein andauerndes Projekt, ich weiß nicht, ob und wann es fertig wird“, erklärt sie. Der orthodox christliche Glaube sei ein fester Bestandteil der griechischen Traditionen. Jede*r werde getauft. Außerdem werden alle wichtigen christlichen Feste groß gefeiert, auch wenn die Eltern nicht gläubig seien. Es geht Georgia um Identität, auch ihre eigene, und wie sie sich gebildet hat. In ihren früheren Arbeiten bezog sie sich auf Käthe Kollwitz und die Arbeit „Samen fürs Säen sollen nicht gemahlen werden.“ Eine Arbeit gegen den Krieg. Georgia sagt, dass man sich den äußeren Umständen nicht erwehren kann, wenn es um die eigene Identität ginge. Käthe Kollwitz wäre nicht die Künstlerin geworden, für die sie in die Geschichte eingegangen ist, wenn ihr Sohn nicht im Krieg gefallen wäre. 

 Kunst als Gespräch

 Auch die aktuelle politische Lage im Land, der Streit um das gekippte Polizeigesetz und die Corona-Pandemie haben dazu geführt, dass Georgia sich mit sich selbst auseinandersetzt. Sie sagt, dass sie nicht alles verstanden habe, was um sie herum passiert, aber sie weiß, dass es Einfluss auf sie hat. Manches sei auch viel zu groß, um es in der aktuellen Situation zu erfassen. Ihre Arbeit ist für Georgia der Weg, mit sich und anderen zu kommunizieren: „Kunst, das bist du. Wenn du etwas sagen möchtest, ist das der Weg, es zu sagen.“ 

Georgia sieht Kunst als ein Gespräch. Der Campus der Bildenden Künste sei wenig von dem gekippten Polizeigesetz betroffen, sagt Georgia. Sie schätze sich glücklich, dass es generell keine großartige Polizeipräsenz auf dem Campus gebe. Die Studierenden würden hier kreative Freiheit genießen, denn auch die Dozierenden seien sehr darauf bedacht, den Kunstdiskurs aktiv zu halten. Die Kunst müsse immer auf die Zeit achten, in der sie geschaffen werde. Sie müsse reagieren und hinterfragen und im Dialog bleiben. Georgias Intention für ihre Kunst ist nicht auf den ersten Blick erkennbar. Für die Betrachter*innen bliebe deswegen großer Interpretationsspielraum. 

 Der Blick der anderen

 Der „Blick“ beschäftigt die Künstlerin in einer Arbeit besonders: Neben den Wachsfiguren breitet sie ein Storyboard aus – kleine quadratische Karten aus grünem Karton. Auf jeder Karte eine andere Szene, in der eine schemenhafte Figur ein Bad nimmt. Das Ganze ist in Graustufen gehalten. In der Stop Motion Animation, die aus dem Storyboard entstehen soll, geht es um den „Male Gaze“. Das ist die männlich heterosexuelle Perspektive auf Frauen, die besonders die sexuelle Anziehung und Verfügbarkeit des weiblichen Körpers betont. 

In Georgias Animationsfilm wäscht sich eine weibliche Person, kümmert sich um ihren Körper – ein intimer Moment. Dann erkennt sie sich selbst im Spiegel, doch ihr nackter Körper ist zensiert. Basis für den Animationsfilm bilde ein Zitat von John Berger, das Georgia in ihrem Skizzenbuch beim Durchblättern zeigt: „Zur Schau gestellt zu werden bedeutet, dass die Oberfläche der eigenen Haut, die Haare des eigenen Körpers zu einer Verkleidung gemacht werden, die in dieser Situation niemals abgelegt werden können. Der/die Nackte ist dazu verdammt, niemals nackt zu sein. Nacktheit ist eine Form der Kleidung.“*  

Zukunftsperspektiven 

Georgia blättert weiter durch ihren Skizzenblock. „Das ist wirklich alt – aus meinem ersten Jahr!“ kommentiert sie. Die Skizzen sind locker und mit wenigen feinen Strichen gezeichnet. Zu sehen sind Bewegungen, Gesichtsausdrücke, hin und wieder eine Seite mit Schrift. Diese ist sehr klein und mit entsprechend großen Illustrationen versehen. Auffällig ist die Sicherheit, mit der die Gesichter und Proportionen gezeichnet sind. Kaum eine Zeichnung sieht aus wie eine Übung, sondern sie wirken wie Gedankenstützen und gezieltes Ausprobieren mit gekonnter Linienführung. 

Die Studierenden müssen für jedes Fach an der Universität eine Prüfung ablegen, für die sie sich meist lange vorbereiten. Georgia war ein Jahr auf einer privaten Schule, die sie auf das Kunststudium vorbereitete. Jetzt studiert sie Bildhauerei im dritten Jahr. Viele junge Künstler*innen gehen diesen Weg, denn ohne eine technische Ausbildung sind die Chancen, die Prüfung zu bestehen, fast unmöglich. Jede*r der*die Aufnahmeprüfung geschafft hat, muss sich für eine Richtung entscheiden. Georgia schwankte zwischen Bildhauerei und „Neue Medien“, der Animationsfilme wegen. Ihre ehemalige Lehrerin Zafeiria Athanasopoulou, die nun als Professorin für Bildhauerei an der Aristoteles Universität lehrt, riet ihr zur Bildhauerei. 

Es ist unüblich, noch einmal das Fach zu wechseln. Auch Georgia steht sehr sicher zu ihrer Entscheidung für die Bildhauerei, aber sie weiß noch nicht genau, wo es hingehen soll. Die politische Lage in Griechenland ist angespannt. Und der Braindrain, das Auswandern junger studierter Griechinnen und Griechen aufgrund besserer Arbeitsmöglichkeiten und Bezahlung ist nichts Ungewöhnliches mehr. Georgia aber möchte nicht ins Ausland, lieber in einen anderen Bezirk der Stadt. Aber auch das ist abhängig vom Einkommen und dem angespannten Wohnungsmarkt. Im Moment lebt Georgia bei ihrer Familie, etwas außerhalb des Stadtzentrums. So sicher wie Georgia Gesichter in ihren Skizzen zeichnet, ist sie sich nicht mit ihrer Zukunft. Denn alles könnte sich sehr schnell ändern, wie sie sagt.


 *Übersetzt von der Redakteurin

Foto: Charlotte Eisenberger