Griechenlands anarchistische Bewegung lehnt normalerweise jegliche Verbindung zu den Medien ab. Die UnAuf darf einen Anarchisten in einen besetzten Universitätsraum begleiten, in dem die Bewegung ihren Widerstand gegen die Polizei organisiert.

Ausgerüstet mit Gasmasken, Helmen und Schlagstöcken kämpft sich die griechische Bereitschaftspolizei durch dichte Wolken aus Tränengas. Mehrere Studierende, die gegen die Polizeipräsenz auf dem Campus demonstriert haben, liegen auf dem Boden. Einer der Polizisten erhebt seinen Schlagstock gegen eine vermummte Person, die vor ihm kauert.

Diese Szene wurde auf einem der elf verstörenden Bilder festgehalten, die Studierende der Aristoteles-Universität im September auf die Stufen der naturwissenschaftlichen Fakultät gemalt haben. Die Malereien basieren auf authentischen Fotos von Gefechten zwischen der Polizei und jungen Demonstrierenden. „Diese Bilder halten die schrecklichen Momente der Polizeigewalt fest, die sich ab Februar letzten Jahres mitten auf unserem Campus zugetragen hat”, erzählt ein junger Student, der lieber anonym bleiben will. „Seit die Polizei nach beinahe 40 Jahren Zugangsverbot die Universität wieder betreten darf, ist unser Campus zum Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen geworden. Dieses Kunstwerk erinnert an die Angst, die wir verspüren.“ Initiiert wurde das Projekt von Studierenden der Kunstfakultät und dem studentischen anarchistischen Kollektiv „Quieta Movere“.

Bei der Ausgestaltung des Kunstprojektes hat auch Konstantinos* mitgewirkt. Er studiert seit über zwei Jahren an der Aristoteles-Universität. In diesem Frühjahr ist er der Bewegung beigetreten, weil ihn die eskalierende Polizeigewalt empört hat. Konstantinos ist auffallend groß und muskulös, hat aber freundliche Gesichtszüge. Wie viele Anarchist*innen trägt er schwarze Kleidung und einen angedeuteten Irokesenschnitt.

Das Kollektiv „Quieta Movere“ hat seit einigen Jahren einen Raum im Universitätsgebäude besetzt. Über dem Eingang prangt der N-förmige Blitz, das Symbol der Hausbesetzer-Szene. „Keinen Schritt zurück“ steht in dicken Lettern darunter. Ein Plakat an der Eingangstür zeigt barbusige Anarchistinnen mit vermummten Gesichtern, die Knochen-Keulen und brennende Molotowcocktails schwingen.  Besetzte Orte wie dieser sind Keimzellen des Widerstandes gegen die Autorität des Staates. Von hier aus werden Demonstrationen organisiert, politische Ideen diskutiert und soziale Events veranstaltet, die den Zusammenhalt innerhalb der Gemeinschaft stärken. 

Im Eingangsbereich befinden sich schwarze Flaggen und Gasmasken, die während der Demonstrationen verwendet werden. Bei einigen Demos ist Konstantinos zufolge der Einsatz von Gasmasken „zwingend notwendig, denn die Polizei ist unberechenbar“. Teile einer blauen Uniform eines Security-Beamten sind wie eine Trophäe über ein scheinbar herausgerissenes Straßenschild drapiert. Es sind Zeichen einer demolierten gesellschaftlichen Ordnung, Vorboten der Revolution, auf die die Bewegung hofft.

„Hoffentlich kommt die Revolution bald“

Der Begriff „Anarchie“ stammt vom griechischen Wort „anarchia“ ab, was „Abwesenheit von Autorität“ bedeutet. Die anarchistische Bewegung hat es sich zum Ziel gesetzt, eine Gesellschaft ohne jede Form der zentralisierten Regierung zu erschaffen. Dem sozialen Anarchismus zufolge soll die Gesellschaft stattdessen in kleinen Gemeinschaften, wie in Familien, Kleinbetrieben und Dörfern, organisiert sein. Sie sollen sich selbst verwalten und auf Prinzipien der Solidarität und Gleichheit basieren.

 „Hoffentlich kommt die Revolution bald“, seufzt Konstantinos. Lässig auf einer Couch zurückgelehnt und Zigaretten drehend, erzählt er seine Geschichte. Er ist 20 Jahre alt und hat sein Leben dem Anarchismus gewidmet. „Wir von Quieta Movere nehmen unsere politische Arbeit extrem ernst. Wir haben durchschnittlich drei Versammlungen pro Woche, planen soziale Events, kommunizieren mit anarchistischen Kollektiven in Athen und gehen mindestens einmal pro Woche demonstrieren. Da bleibt fast keine Zeit mehr fürs Studium.“

Konstantinos glaubt fest daran, dass er und seine Genoss*innen die Welt wirklich verändern können. „Aber unsere Arbeit ist gefährlich.“ Die Polizei betrachteten Anarchist*innen als ihre Erzfeinde, erklärt er. Über 200 seiner sogenannten Genoss*innen wären in den letzten zwei Jahren verhaftet worden. „Meine Genossen wurden in Gefängniszellen Schikanen ausgesetzt. Sie wurden zum Beispiel nicht auf die Toilette gelassen oder ihnen wurde kein Essen gebracht. Für unsere Genossinnen ist die Situation noch schlimmer. Auf Demonstrationen werden sie mit misogynen Schimpfwörtern beleidigt und es gibt auch körperliche Übergriffe.“

„Anarchismus wurde lange als etwas Gefährliches missverstanden“

Nachdem Premierminister Kyriakos Mitsotakis’ rechtskonservative Partei Nea Dimokratia an die Macht gekommen ist, befindet sich die anarchistische Bewegung laut Konstantinos in der schwierigsten Zeit seit dem Ende der Militär-Junta in den 70ern. Mitsotakis’ Law-and-Order-Politik richtet sich offiziell gegen Drogenhandel und Kriminalität an den Universitäten. „Eigentlich geht es aber darum, das Image von einer geordneten Uni an die Bevölkerung zu verkaufen“, sagt Konstantinos.  „Besonders uns wollen sie aus den besetzten Räumen vertreiben, weil wir nicht in dieses Bild passen.“

Besetzte Universitätsräume sind für Konstantinos jedoch unersetzlich: „Wir bieten einen Zufluchtsort, der für alle offen ist und in dem sich jeder frei äußern kann.“ Frei von hierarchischen Verhältnissen, könnten Studierende hier politische Ideen diskutieren oder während Filmabenden zusammenkommen. In der griechischen Gesellschaft, in der Homophobie immer noch verbreitet ist, würden sie auch Personen aus der LGBTQ+ Community eine Anlaufstelle bieten. „Gay proud“ ist in großer Schrift an die Wände gesprüht.

„Anarchismus wurde lange als etwas Gefährliches missverstanden“, sagt Konstantinos. Griechische Medien entwerfen oft ein Image von Anarchist*innen als gesetzlose Hooligans, die sinnlose Zerstörung anrichten. Er sei jedoch darum bemüht, zu zeigen, dass sein Kollektiv mehr als Gewalt zu bieten hat: „Ich und meine Genossen von Quieta Movere organisieren viele soziale und kulturelle Projekte. Durch unsere Events versuchen wir jeden Tag, gegen diese negativen Stereotype anzukämpfen und mit Menschen ins Gespräch zu treten.“

„Die Polizei ist kriminell“

Derzeit sei es wichtig, die breite Unterstützung der Gesellschaft zu gewinnen. Deshalb haben sie vor kurzem das dritte liberale Festival der Hausbesetzungen veranstaltet. Die ersten zwei Tage waren ein großer Erfolg. Dann passierte etwas, über das er und seine Genoss*innen bis heute täglich reden:

„Am dritten Tag wollten wir unseren Campus mit einem Live-Konzert zum Leben erwecken. Wir waren so glücklich, über 7.000 Leute waren gekommen! Plötzlich fing die Polizei an, Tränengas und Blendgranaten wie Basketballs mitten in die Menge zu schießen. Vor Ort befanden sich auch ältere Leute mit ihren Enkeln, Menschen mit Behinderungen und Schwangere.“

Auch „CopWatch“, eines der größten Medien gegen Polizeigewalt in Griechenland, kritisiert den Vorfall scharf. Ein Leiter der Organisation erzählt, dass er die Vorgänge vor Ort live gestreamt habe: „Was die Polizei getan hat, war mörderisch. Der Auslöser war, dass eine Handvoll Leute mehrere Straßenzüge weiter ein paar Steine geworfen hatten. Für zigtausend Konzertbesucher gab es nur zwei Ausgänge. Es ist ein Wunder, dass niemand zu Tode getrampelt wurde.“

„Die Polizei ist kriminell“, sagt Konstantinos. „Die Vergangenheit und jeder Tag zeigt das aufs neue.“ Er raucht eine weitere Zigarette. Dann verabschiedet er sich; er hat noch viel vor. Morgen früh gehen Konstantinos und seine Genoss*innen wieder unter schwarzen Flaggen auf die Straße. Es soll eine friedliche Demonstration gegen die Stationierung der Polizei auf dem Campus werden.