Leistungsnachweise aus Papier sind an manchen Instituten der Humboldt-Universität noch immer die Regel. Während der Pandemie pochte die HU auf eine Digitalisierung des Lehrbetriebes. Die Scheine aber blieben. Warum ist das so? Und ab wann können wir uns endlich von der ständigen Angst vor fehlenden Unterschriften verabschieden?
Es kommt vor, dass Studierende ihre Leistungsscheine wie einen Schatz in einem Schubfach ihres Schreibtischs hüten. Das macht Sinn, denn wer seinen Schein verliert, verliert damit auch den einzig geltenden Leistungsnachweis für ein Seminar. Außerdem sammeln sich Nachweise auch dann an, wenn die erforderlichen Unterschriften von Dozierenden noch fehlen. Wenn schließlich Studierende mit einem Papierbündel zum Prüfungsbüro kommen, zeigt das vor allem ein Problem auf: Wie in den Neunziger Jahren gibt es an der Humboldt Universität Studierende, die ihren Leistungsscheinen hinterherlaufen müssen.
Auch während der Corona-Pandemie hat sich nichts an der Zettelwirtschaft geändert. Zwar hat die HU den gesamten Lehrbetrieb digitalisiert, aber die Modulscheine blieben davon unberührt. Im Masterstudiengang für Europäische Literatur zum Beispiel mussten Studierende bis vor kurzem ihre Leistungsnachweise ausdrucken und selbst unterschreiben. Danach konnten sie per Scan an das Prüfungsbüro übermittelt oder in den Briefkasten geworfen werden. Die individuellen Leistungen wurden erst in AGNES übertragen, wenn Dozierende die erbrachte Prüfungsleistung bestätigt hatten. Zusammengefasst: Der Weg von der bestandenen Prüfung bis zur Anrechnung der ECTS in AGNES ist lang.
Steffan Baron, Leiter der Studienabteilung, ist Ansprechpartner für die Zugangs- und Zulassungsvoraussetzungen. Er findet die Scheine überflüssig, betont jedoch die Hürden, bevor solche endgültig verschwinden könnten. So habe man im Rahmen der fächerübergreifenden Satzung zur Regelung von Zulassung, Studium und Prüfung der Humboldt-Universität zu Berlin (kurz ZSP-HU) mit Beginn der Pandemie den Studierenden eingeräumt, Leistungsnachweise per Mail einzureichen.
„Es bedarf immer auch einer rechtlichen Absicherung von Verfahren. Das haben wir mit der Rahmensatzung gemacht. Ich persönlich möchte aber weg von Papierscheinen, egal ob sie nun in den Briefkasten geworfen oder eingescannt werden“, sagt Steffan Baron.
Die Macht der Gewohnheit
Mit der Einführung des elektronischen Vorlesungsverzeichnis, hätte die Zeit der Leistungsnachweise bereits enden können. „Mit dem AGNES-Portal haben wir bereits die Möglichkeit für Studierende, sich elektronisch zur Prüfung anzumelden. Wir haben auch die Möglichkeit für Lehrende, die Noten online zu verbuchen. Da ist das Papier gar nicht notwendig. Es scheint aber, als habe man in einigen Instituten das Magister-System in das Bologna-System übernommen“, erklärt Baron.
Mit Blick auf die Bologna-Reform hätte in manchen Fakultäten die Zettelwirtschaft sogar zugenommen. Das ist etwa in der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Fall. Dort ähnele das Prüfungssystem stark dem ehemaligen Magister: „Das System, in dem man zwei Seminare absolviert, eine Seminararbeit schreibt und sich dann von den Lehrenden Scheine holt, ist tatsächlich ganz historisch und klassisch aus dem Magister bekannt“, so Baron.
Hier zeige sich die Macht der Gewohnheit. Das System mit den Scheinen habe sich gehalten. Außerdem sorge die Verschulung des Lehrbetriebes durch die Bologna-Reform für ein komplexere Nachweispflicht. „Das hängt damit zusammen, dass mit der Einführung von Leistungspunkten bzw. Creditpoints viele Lehrende offenbar der Meinung sind, dass sie jede Leistung überprüfen müssen. Das geschieht heute sehr viel stärker, als es noch vor der Bologna-Reform der Fall gewesen ist“, sagt Baron.
Scheine für die Freiheit der Lehre
Eva-Maria Voigt, Leiterin des Bereichs Studium und Lehre an der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät, würde ebenfalls gerne auf die Scheine verzichten. Diese seien aufgrund der derzeitigen Prüfungsordnung jedoch noch notwendig. „Wir haben uns in der Fakultät intensiv mit den Leistungsnachweisen beschäftigt. Auch einige Institute haben den Wunsch, auf Papier zu verzichten. Ein wichtiger Punkt ist jedoch, dass einzelne Lehrveranstaltungen häufig unterschiedlichen Studiengängen, Studien- und Prüfungsordnungen oder Modulen zugeordnet werden können“, sagt Voigt.
Durch diese interne Kombinationsmöglichkeiten gebe es unterschiedliche Leistungsnachweise zu erbringen und somit unterschiedlich viele Leistungspunkte je Studiengang. Außerdem könnten, so Voigt, Studierende selbst wählen, in welchem Modul sie sich ihre Seminare anrechnen lassen wollen.
Die Scheine seien für die Freiheit der Lehre also notwendig. „Prüfungen und Studienleistungen werden an der HU unabhängig voneinander angemeldet und abgenommen. Das ist ein Stück weit positiv, weil Studierende dazu mehr Flexibilitäten haben“, so Voigt. Demnach sei das Lehrangebot durch die vielen Kombinationsmöglichkeiten in den Geisteswissenschaften weniger standardisierbar. Die Umsetzbarkeit einer Schein-freien Fakultät scheitere demnach am großen Lehrangebot.
„Ein neues Campus-Management-System, dass uns Flexibilität ermöglicht und auf Papier verzichten lässt, wäre natürlich gut, aber wir vermuten, dass mit dem neuen System eine Standardisierung einhergehen wird, wodurch wir vielleicht auf Einzelfälle nicht mehr genügend eingehen könnten“, erörtert sie.
Schein-frei in Adlershof?
Anders hingegen, so erzählt Steffan Baron, sehe es bei den ehemaligen Diplomstudiengängen in den Natur- und Wirtschaftswissenschaften aus. „Man besucht die Vorlesung und die Übung, macht die Prüfung und dann wird die Note elektronisch verbucht. Papier ist nur für die Prüfungsanmeldung nötig.“
Alexandra Schäffer, Leiterin für Lehre und Studium an der Mathematisch- Naturwissenschaftlichen Fakultät in Adlershof, nennt noch einen anderen Grund: „Wir haben die Abwicklung der Prüfungen und die Leistungserbringung digitalisiert“. Lediglich Nebenhörer*innen und Austauschstudierende würden noch Leistungsnachweise benötigen. Außerdem würden Fächer wie Mathematik keine Kombinationsmöglichkeiten bieten, wie es in den Geisteswissenschaften der Fall ist.
Mehr noch als das, so Schäffer, habe man aus der Fakultätsreform von 2014 gelernt. Die naturwissenschaftlichen Fächer fusionierten zur Mathematisch- Naturwissenschaftlichen Fakultät (MNF). Schnell habe sich gezeigt, dass die so zusammengelegten Verwaltungsstrukturen sehr unterschiedlich waren. „Wir haben festgestellt, dass die Zuständigkeiten innerhalb der verschiedenen Prüfungsbüros sehr variierten. Einige waren etwa mit der Lehrplanung beauftragt, andere wiederum nicht. Wir mussten das einfach ordnen und umorganisieren“, erinnert sich Schäffer.
Dadurch entstand das Reformprojekt „Prüfungsbüros 2.0“, in dessen Rahmen die Prüfungsbüros Prozesse und Zuständigkeiten aufeinander abstimmten. Diese Reform auf eigene Faust habe ihre Wirkung nicht verfehlt: „Unter anderem haben wir es geschafft, von damals über 50 Formularen auf etwa zehn zu reduzieren und diese sind auch alle digitalisiert worden.“
Was in der Mathematisch- Naturwissenschaftlichen Fakultät bereits Realität ist, könnte bis 2030 an der gesamten HU Norm sein. Denn bis dahin wird das jetzige Campus-Management-System überholt sein. „Spätestens dann endet der Support endgültig und dann müssen wir ein neues System implementiert haben“, sagt Steffan Baron. Mit dem Wechsel wolle der Computer- und Medien-Service der HU auch gleich die Leistungsnachweise aus Papier streichen. Spätestens dann könnten Studierende endlich Schein-frei sein und müssten sich um verlorene Nachweise und fehlende Unterschriften keine Sorgen mehr machen.
Dieser Text ist in der UnAufgefordert #260 zum Thema „Aktenzeichen HU“ im Juni 2022 erschienen.
Foto: Sharon Mccutcheon/ unsplash