Jahr um Jahr geht eine Welle der Empörung durch das Sowi-Institut, weil Studierende bei der Platzvergabe von Lehrveranstaltungen über AGNES leer ausgehen. Was steckt hinter dem Problem?
Universitären Studiengängen wird im Allgemeinen ja eine zu große Theorielastigkeit vorgeworfen. Dem Institut für Sozialwissenschaft (ISW) der HU kann man zugute halten, den Studierenden zumindest einmal im Semester die Inhalte auch in der Praxis näher bringen zu wollen. Denn wie sich willkürliche Diskriminierung – um deren strukturelle Ausprägung sich viele der Kurse drehen – anfühlt, erfahren Studierende bei einem Blick auf den Stundenplan, wenn Facility Managerin AGNES mit Ende der Anmeldefrist mal kurz durchgewischt hat.
Für einige Glückliche zeigt sich dann ein versöhnliches Bild: Sie wurden für Kurs um Kurs zugelassen. Andere gehen trotz etlicher Anmeldungen für Lehrveranstaltungen komplett leer aus. Und die meisten bewegen sich irgendwo dazwischen – laut Nachrichtenlage in den Sowi-Chats eher am unteren Ende der Skala. Was für andere Menschen mit Diskriminierungserfahrungen der mühsame Gang zur Behörde ist, ist für Sowi-Studierende dann der Parcours zwischen den unterschiedlichen Kommunikationskanälen: WhatsApp-Nachrichten mit Passwortbitten an Kommiliton*innen, verzweifelt bis wütende Mails an Dekanat und Vizepräsidenten, Dackelblicke für die Dozierenden.
Dabei ist die augenscheinlich fehlende Funktionalität von AGNES bei der Platzvergabe für Sowi-Kurse seit Jahren bekannt. Die Fachschaft bezeichnete das Thema in ihrer Rundmail zum Semesterstart gar als „strukturelles Problem“ und beklagte, dass Lösungsansätze in den vergangenen Semestern abgewiesen wurden. Auch die Einberufung einer Vollversammlung stand im Raum. Trotz signalisierter Kooperationsbereitschaft, lag der UnAuf bis Redaktionsschluss mit Verweis auf die Organisationsstruktur keine Stellungnahme der Sowi-Studierendenvertretung vor.
Auf Spurensuche im Haushaltsplan
Am naheliegendsten, wenn etwas fehlt – und in diesem Fall scheint es an Lehrveranstaltungen zu mangeln – sind unzureichende Finanzmittel. Dass an der HU nicht gerade Geld en masse vorhanden ist, legte auch Ex-Präsidentin Sabine Kunst in ihrem Rücktritts-Statement nahe. Sie beklagte sich darin über die fehlende Gegenfinanzierung für die „Aufgaben der nächsten fünf bis zehn Jahre“. Bereits die Haushaltspläne der vergangenen Jahre zeigen, dass die HU zuletzt mehrere Millionen Euro Fehlbetrag erwirtschaftete.
Über die Finanzierung der einzelnen Institute finden sich online allerdings nur wenige Daten. So ist die letzte öffentliche Statistik, aus der hervorgeht, wie viel Geld die einzelnen Lehrbereiche erhielten, knapp vier Jahre alt. Darüber hinaus finden sich Angaben zu den einzelnen Kostenstellen, nicht aber darüber, wie diese den Instituten zuzuordnen sind. Ob sich am Budget in den vergangenen Semestern etwas verändert hat, lässt sich von ihnen also nicht ableiten. Anfragen zur Entwicklung der Finanzierung bei Prof. Dr. Nils Pinkwart, dem Vizepräsidenten für Lehre und Studium, und beim Institut für Sozialwissenschaften blieben in den jeweiligen Stellungnahmen unkommentiert. Ob es dem Institut also nicht nur an Geld fehlt, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen, sondern jene der Vergangenheit bereits zu teuer sind, bleibt Spekulation.
AGNES ist überfordert von massenhaften Anmeldungen
Viel mehr begründeten sowohl die Institutsverantwortlichen als auch Pinkwart die Probleme bei der Platzvergabe vorrangig mit einer falschen Handhabung von AGNES. Denn der Algorithmus weist Plätze in den Lehrveranstaltungen folgendermaßen zu: Er unterteilt die angemeldeten Studierenden in drei Gruppen. Jene für die der angebotene Kurs zum Pflichtbereich gehört, jene, die sich im Überfachlichen Wahlpflichtbereich angemeldet haben und fachfremde Studierende. Innerhalb der Gruppen werden dann jene mit „besonderer Härte“ bevorzugt, bei gleichen Voraussetzungen entscheidet das Los. Anders als oftmals angenommen, spielt also etwa der Anmeldezeitpunkt keine Rolle für die Vergabe.
Laut Pinkwarts Stellungnahme wird die Funktionsweise von AGNES dabei durch die „massenhaften Anmeldungen“ ausgehebelt. Denn dadurch entscheidet bei mehr als hundert Anmeldungen für Veranstaltungen, zu denen maximal 20 Menschen zugelassen werden, fast immer das Los. „Wenn Studierende für eine hohe Anzahl von Kursen eine Präferenz angeben, kann AGNES die Plätze nicht mehr sinnvoll verteilen“, schreibt auch das Institut.
Der Algorithmus von AGNES werde zudem durch die Eigenheiten des Studiengangs vor einige Herausforderungen gestellt. So hätten zwar alle Studierende ein Anrecht auf die Belegung von Veranstaltungen in einem bestimmten Modul, „nicht aber auf bestimmte inhaltliche Ausrichtungen“. Ein zumindest fragwürdiger Ansatz, da die Sozialwissenschaften inhaltlich sehr divers aufgestellt sind und deshalb eine fachliche Spezifizierung mit Blick auf ein späteres Masterstudium eigentlich notwendig ist. Hinzu kommt laut Institut, dass sich die Anzahl der eingeschriebenen von der Anzahl der aktiven Studierenden unterscheidet und die Nachfrage nach bestimmten Themen im Vorhinein nicht immer eingeschätzt werden kann. Weitere Platzknappheit entsteht laut Pinkwart zudem, weil manche Lehrende ihre Kurse im System falsch zuweisen und AGNES dann nach einer falschen Priorisierung einteile.
Die Uni sollte Lösungen nicht auf die Studierenden abwälzen
Lösungen will das Institut für Sozialwissenschaften durch die derzeit laufenden Reformen der Studienordnungen für den Bachelor und den Master erreichen. Hierfür arbeite man daran, Studierende „noch stärker als bisher in die Lehrplanung” einzubinden. Zudem betonen die Verantwortlichen in ihrem Statement, dass Studierende der Sozialwissenschaften sich etwa auch Veranstaltungen anderer Fachrichtungen und Universitäten anrechnen lassen können. Vor allem sei es aber notwendig, von Massenanmeldungen abzusehen und sich von Kursen, die man nicht besuchen kann, zeitnah wieder abzumelden, um so anderen Studierenden eine Zulassung über die Nachfrist zu ermöglichen.
Zwar ist plausibel, dass die Problematiken der Platzzuweisungen über AGNES und die Massenanmeldungen sich gegenseitig verstärken, trotzdem erscheint es fragwürdig, die Lösungsansätze größtenteils bei den Studierenden selbst zu verorten. Denn da jedes Semester Berichte über zu wenig erhaltene Kursplätze eher die Regel als die Ausnahme sind, ist es nur verständlich, dass Studierende sich für mehrere Seminare anmelden, um zumindest ein paar Plätze ergattern zu können. Und selbst wenn für gewöhnlich in den ersten beiden Semesterwochen individuelle Lösungen für die Betroffenen gefunden werden, bedeutet die derzeitige Situation eine Menge Stress. Immerhin hat ein Großteil der Betroffenen nicht nur einen Stundenplan zu koordinieren, sondern auch einen Job und gegebenenfalls Kinder oder Pflegetätigkeiten. Das bedeutet zwei Wochen Unsicherheit, in denen man etwa Vorgesetzte und Familienangehörige mit vagen Zusagen vertrösten muss.
Damit bleibt die Frage, ob sich von Seiten der Universität wirklich nicht mehr tun lässt, um Studierende bei der Gestaltung und dem fristgerechten Abschluss ihres Studiums zu unterstützen. Denn wo Exzellenz draufsteht, muss auch Exzellenz drin sein. Das fängt bei einem adäquaten Zugang zu Lehrveranstaltungen an, der sich nicht nur nach dem Bedarf der Studierenden richtet, sondern auch nach deren Interessen. Momentan scheint die Humboldt mit beidem überfordert zu sein.
Dieser Text ist in der UnAufgefordert #260 zum Thema „Aktenzeichen HU“ im Juni 2022 erschienen.
Foto: Nils Katzur