Wir leben in turbulenten Zeiten – Angriffskrieg in der Ukraine, mögliche Atomangriffe und Energiekrise. Bei einem Blick in den Newsfeed entsteht das Gefühl, genau dort zwischen den Pixeln dem Weltuntergang beizuwohnen. Was unsere Autorin hier beschreibt, nennt sich Doomscrolling.
Das Kollektivtrauma einer Pandemie noch nicht ganz verarbeitet, drängen sich uns schon die Nachrichten vom Angriffskrieg in der Ukraine, möglichen Atomangriffen und Energiekrisen auf. Das kann auch das schöne Sommerwetter nur wenig kompensieren, springen einem doch beim Blick auf die Wettervorhersage auch immer die unguten Warnungen vor Hitzewellen und Waldbränden mit ins Auge. Und sollten Krieg und Klimawandel tatsächlich einmal auserzählt sein, wartet stets noch eine schier unerschöpfliche Anzahl weiterer Krisen oder Konflikte darauf, endlich ins Rampenlicht unserer Aufmerksamkeit zu treten.
Öffnen wir in diesen Zeiten also nun die Nachrichten auf unseren Smartphones, entsteht das Gefühl, genau dort zwischen den Pixeln dem Weltuntergang beizuwohnen. Da kann schon mal das Verlangen aufkommen, das Handy einfach gegen die Wand zu werfen und sich in eine einsame Hütte am Ende der Welt zurückzuziehen. Das aber auch erst nach diesem einen Artikel über das aktuelle Kriegsgeschehen, nach diesem kurzen Blick auf die steigenden Energiepreise, nach diesem einen Kommentar über Putins Geisteszustand. Und steigen die Corona-Inzidenzen nicht gerade auch wieder? Wie waren nochmal die Prognosen für den Herbst? Und was passiert da schon wieder in den USA?
Aus dem Impuls, nur mal kurz die Nachrichten zu checken, wird so ein unendlicher Sog aus negativen Schlagzeilen. Diese können auslaugen und deprimieren und es scheint unmöglich, sich ihnen wieder zu entziehen. Das Phänomen ist dabei längst keine Seltenheit mehr. Tatsächlich tritt es mittlerweile so häufig auf, dass es dafür nun ein komplett neues Wort gibt: Doomscrolling.
„Doom“, das ist Englisch und bedeutet Untergang oder Verderben, und mit Doomscrolling ist dann der exzessive Konsum negativer Nachrichten gemeint. Das Phänomen ist so aktuell, dass es für das Jahr 2020 vom Macquarie Dictionary zum Committee´s Choice Word of the Year gekürt wurde. Wir werden also nicht nur täglich mit neuen negativen Schlagzeilen konfrontiert, wir sind auch noch geradezu süchtig danach. Bis zum Untergang und noch einen Klick weiter, wie ein pessimistischer Buzz Lightyear wohl sagen würde.
Negative Informationen zu sammeln, ergibt evolutionär betrachtet auch durchaus Sinn: Nach dem Negativitätsbias schenken wir negativen Informationen besondere Aufmerksamkeit, da diese unserem Gehirn helfen, Gefahren zu erkennen und zu antizipieren. Und je mehr Informationen wir über eine potenzielle Gefahr sammeln, umso besser für unser Überleben. Wie so oft scheitert die Evolution hier aber am modernen Zeitalter: Gefahren lauern nicht mehr einfach vor der nächsten Höhle, sondern manifestieren sich in sehr viel komplexeren, globalen Bedrohungen, für deren tiefgreifendes Verständnis unsere Kapazitäten einfach nicht mehr ausreichen. Hinzu kommt, dass wir die modernen Algorithmen unserem Drang nach negativen Informationen so sehr füttern, dass diese unsere Schwachstellen schamlos ausnutzen und uns immer mehr negative Nachrichten zuspielen, um uns so weiter am Gerät zu halten.
Illustration: Lotte Marie Koterewa
Dieser Text ist in der UnAufgefordert #261 zum Thema „www.journalistische-verantwortung.de“ im August 2022 erschienen.