Anlässlich des Champion Slams 2021 besuchten am Freitag, dem 25. Juni,  beinahe 1000 Zuschauer*innen das Freiluftkino im Volkspark Friedrichshain. Das Event, welches von dem Poetry Slam-Kollektiv  „Kiezpoeten“ organisiert worden ist, bot bekannten Wortkünstler*innen aus ganz Deutschland die Chance, ihre Texte endlich wieder live zu performen.

Es ist 19:30 Uhr und vor dem Eingangstor des Freiluftkinos tummeln sich zahlreiche Menschengrüppchen. Nach monatelangem Lockdown lässt alleine die Aussicht auf  soziale Interaktion im Großformat meinen Puls ansteigen. Endlich wieder zusammen mit anderen Menschen Kunst und Kultur live erleben! Endlich wieder so richtig Gemeinschaft spüren!

Nachdem ich maßnahmenkonform meinen Negativ-Test vorgezeigt und die Eingangsschleuse passiert habe, mache ich mich auf die Suche nach Jesko Haber, einem Mitgründer des Kollektivs und meinem Ansprechpartner. Man lotst mich in den Backstage-Bereich, wo ich direkt die Bekanntschaft der meisten Veranstaltungstragenden mache. Die Stimmung hier ist überraschend entspannt. Vermutlich bin ich selbst sogar nervöser als die Slammer*innen, die sich in wenigen Minuten der beachtlichen Publikumsmasse stellen werden. 

„Wie fühlst Du Dich gerade?“ frage ich Monika Mertens, eine der beiden Slammerinnen der Runde. So kurz vor dem Auftritt fällt es Monika schwer, ihre Gefühlswelt zu beschreiben. „Nach so langer Zeit der Auftrittsabstinenz ist das einfach surreal“, erklärt sie. Das heutige Event käme schließlich nach all den kleinen Online-Veranstaltungen einer Steigerung „von 0 auf 900“ gleich.

Auch Ortwin Bader-Iskraut, Moderator und Stimmungsmacher des Champion Slams bestätigt mir, dass dieser Abend nicht nur für den Zuschauer „sehr abgefahren“ sei- pure Euphorie auf der Bühne und im Publikum: „Hier kann nichts schief gehen!“.

Spielregeln und Publikumseinfluss

In ein paar Minuten geht es los und meine Aufregung nimmt zu. Welche Themen werden die dargebotenen Slams behandeln und wer wird schlussendlich zum Publikumsliebling gekürt werden? Ich finde meinen Platz an einem kleinen Tisch-Arrangement in der zweiten Reihe. Mit meiner Platzwahl bin ich sehr zufrieden: bester Blick auf die Bühne, eine Kerze vor mir auf dem Tisch (romantisch!) und zwei Damen mit Punktetafeln im Nacken. 

Dieser Slam ist nämlich mehr als ein stupider Wettbewerb mit Expert*innen, die über die Platzierung entscheiden: Hier liegt die Entscheidungsgewalt in den Händen des Publikums, das in der ersten Runde von 11 Individuen vertreten wird. Diese hat der Zufall zu Publikumsjuror*innen auserkoren und mit Punktetafeln ausgestattet, welche eine Bewertung der einzelnen Texte von 1 bis 10 erlauben.

Außerdem gebe es drei wichtige Regeln für die Dichter*innen, erklärt Ortwin, der mittlerweile sein natürliches Habitat eingenommen hat (die Bühne):

  1.     Die Texte müssen selbst geschrieben sein
  2.     Es gibt ein Zeitlimit von 7 Minuten pro Performance.
  3.     Requisiten und Kostüme sind verboten. 

Nach flottem Applauscheck betritt der Feature Artist Lars Ruppel die Bühne. Er nimmt die Zuschauer mit auf eine intensive S-Bahn Fahrt, die Dönerverspeis beinhaltet und einfach kein Ende finden will. Als Feature Artists bezeichnet man in der Szene übrigens diejenigen, die auf der Bühne einen Text performen, aber vom Wettbewerb ausgeschlossen sind.

In den nächsten knapp 90 Minuten machen sich nun fünf verschiedene Künstler*innen die Bühne zu eigen und fesseln uns Zuschauer*innen in einem Bann aus Worten, Assoziationen und Phantasien. Den Auftakt macht Monika Mertens mit ihrer aufrichtigen Liebeserklärung an die old-school Technik ihrer Jugend, gefolgt von Koja Fach, der eine Absurdität der modernen Menschheit beleuchtet: Sinnlose Kommentarspalten. An dritter Stelle steht Jesko Habert selbst auf der Bühne und performt seinen interaktiven, metapoetischen Text über einen Mordfall auf einem Slam-Event. Eine Zuschauerin entscheidet hier gewissenhaft über den Verlauf des Geschehens. Experimentell!

Monika Mertens

Nick Pötter dagegen denkt die traditionelle Sage um Europa neu und gibt Einblicke in die verkaterte Welt der griechischen Götter. Was als unterhaltsamer, urkomischer Text beginnt, zieht gegen Ende überraschende Parallelen zur Flüchtlingskrise und regt zum Nachdenken an. Als letzte Wettbewerbsteilnehmerin beendet Victoria Helene Bergemann aus Kiel die erste Runde: In ihrem Text setzt sie sich mit dem Einfluss von Selbstbewusstsein auf die eigene Schönheit auseinander und regt alle Anwesenden dazu an, sich doch einfach mal schön zu denken.

Bereits die erste Runde zeugt von der grenzenlosen Kreativität innerhalb der Slam-Szene: Alle Performances haben schließlich auf unterschiedlichste tagesaktuelle Kontexte aufmerksam gemacht und sich diversester Darbietungsformen bedient. 

Finalstimmung

Jetzt liegt es in den Händen der Publikumsjury, Punkte zu vergeben und den weiteren Verlauf der Veranstaltung maßgeblich zu prägen. Welche beiden Slammer*innen erhalten die Möglichkeit, im Finalduell einen weiteren Text zu performen und für wen ist die heutige Bühnenzeit leider bereits abgelaufen? Die Spannung unter allen Anwesenden ist groß, als nach der Punkteauswertung endlich die beiden Finalisten des Abends bekannt gegeben werden: Kolja Fach und Nick Pötter sind eine Runde weiter.

Nach einem zweiten Feature-Text von Lars Ruppel wird Nick auf die Bühne moderiert, wo er Einblicke in verwinkelte Ecken seines Gehirns gewährt.  Dort streiten 4 Kopfgeister namens Liebe, Gesundheit, Reichtum und Weisheit um die Vorherrschaft über sein Wesen. Doch was passiert, wenn ein Geist nach dem anderen die Alleinherrschaft übernimmt? Gibt es am Ende überhaupt den einen wahren Souverän oder geht es vielmehr darum, sich gegenseitig zu ergänzen?

Die Geister in Koja Fachs Kopf sind sich jedenfalls einig: Späße auf Kosten von „Gutbürgern“ zu machen, verschleiert nur die eigenen Laster. Sein Final-Text dreht sich um altbekannte Ausreden, die das eigene Fehlverhalten legitimieren. Warum auf Diesel verzichten, wenn in China auch niemand Wert auf Umweltschutz legt? Warum überhaupt versuchen, die Welt zu verbessern, wenn doch Tick, Trick und Track keinen Beitrag leisten…dann vielleicht doch lieber Vegetarier belächeln und sich selbst die eigene Verantwortung absprechen.

Kolja Fach

Die Stimmung im Freiluftkino ist ausgelassen und elektrisierend, denn nun wird der Applaus des gesamten Publikums über den Ausgang des Wettstreits entscheiden. Schlussendlich ist es ein knappes Rennen zwischen den beiden Finalisten, welches der 28-Jährige Nick Pötter für sich entscheidet. Der Vorhang fällt und die Veranstaltung nimmt ein offizielles Ende. Während sich alle anderen Gäste auf den Heimweg machen, flitze ich selbst in den Backstage Bereich um den erkorenen Champion zu interviewen. Nick spricht mit mir darüber, was den Poetry Slam ausmacht und welche Rolle dem Publikum dabei zuteil wird: „Poetry Slam ist für mich auf einer Bühne stehen und einen Text vortragen. Poetry Slam ist für mich dieser ganze Abend drumherum: das Herkommen, das Leutesehen, die Reaktionen vom Publikum.“ 

Endlich wieder Publikumsatmosphäre

Natürlich freut er sich über seinen Sieg, aber das Wettbewerbsformat sei generell nur „pro forma“ und für den Auftretenden eher nebensächlich. „Der Wettbewerb ist für das Publikum wichtig“, da die Jurorenrolle die eigene Aufmerksamkeit schärfe und einen Einfluss auf den Veranstaltungsverlauf erlaube. Dadurch rufe die Bühnenliteratur aktive, unmittelbare Publikumsreaktionen hervor, welche den Veranstaltungscharakter maßgeblich prägen.

Nick Pötter

Als ich kurz darauf am Bücherstand den Zweitplatzierten Kolja Fach treffe, möchte ich von ihm wissen, mit welcher Botschaft er ganz Berlin tapezieren würde: „Wenn dir jemand Feedback gibt zu dem, was du gesagt hast, dann bedeutet das das GEGENTEIL davon, dass deine Meinungsfreiheit beschnitten wurde.“, antwortet er überlegt. Sein Slam-Text aus der ersten Runde thematisiert schließlich die Bedeutung von Meinungsfreiheit: Politisch Rechtsorientierte dürfen gesetzlich ihre Meinung äußern und berufen sich auf dieses Recht. Gleichzeitig wollen sie aber Kritikern deren Meinungsfreiheit absprechen, kritisiert Kolja. 

Nach einigen Stunden geballter Wortkunst und inspirierender Begegnungen verabschiede ich mich schließlich von den Veranstaltenden. Ich bin erfüllt von den zahlreichen Eindrücken und in meinem Kopf hallt ein Satz von Nick Pötter nach: „Wenn du einmal in einem Raum gesessen hast und der gebrannt hat von einem Text und du gesehen hast, wie ein Slam funktioniert, dann willst du das auch machen.“ Wahre Worte! Ich frage mich, wie viele Texte nach dieser Veranstaltung geschrieben werden; wie viele Menschen den Stift in die Hand nehmen und sich an einem eigenen Slam versuchen. 

Um meinen Report mit den Worten Jesko Haberts abzuschließen: „Es war krass, groß und voller Menschen.“ Der Champions Slam 2021 ist für viele Anwesenden die erste Großveranstaltung seit langer Zeit gewesen und hat nicht nur durch die talentierten Künstler*innen, sondern ebenfalls durch eine gelungene Organisation überzeugt. Der Dank hierfür gebührt dem Kollektiv „Kiezpoeten“, auf dessen Website man auch die Termine für zukünftige Veranstaltungen einsehen kann.