Am 03.12.2021 feierte ,,Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‘‘ am Berliner Ensemble Premiere. Die Inszenierung zur Vorlage von Originalautor Fjodor Dostojewski hat Regisseur Max Lindemann organisiert, auf der Bühne zu sehen war Oliver Kraushaar. Ein kongeniales Gespann, das einen provokanten und unvergesslichen Abend auf die Bühne zaubert.

Ganz an der Aufmerksamkeit der Berliner Öffentlichkeit vorbei hat sich das Berliner Ensemble vor zwei Jahren ein weiteres kleines Theatergebäude gebaut. So steht nun auf dem Hof des altehrwürdigen Theaters am Schiffbauerdamm das schlicht gehaltene aber sehr sympathische ,,Neue Haus‘‘. Hier gibt es immerhin zwei Säle und blickt man auf die architektonische Komposition dieses Theaterneubaus, erinnert diese an die vielen kleinen Vorstadt- und Jugendbühnen unseres Landes – also sympathisch. Dieser Neubau ist aber nicht nur in seiner baulichen Bescheidenheit eine Freude. Vielmehr hat das Berliner Ensemble mit all seinen talentierten Schauspielern nun noch mehr Platz, die hohe Schauspielkunst zur Aufführung zu bringen. Eine Demonstration genau jener Kunstfertigkeit wird auch im Rahmen der Aufführungen von ,,Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‘‘ geboten.

Liest man die Original-Erzählung von Dostojewski selbst, hat man oft das Gefühl hier würde eigentlich sachgrundlos lamentiert – ja man muss sich erst wirklich tief eingraben in das Dostojewski’sche Konzeptuniversum, um die eigentliche Botschaft dieser 200 Seiten Text zu verstehen. Am Berliner Ensemble ist es dem Dramaturgen Johannes Nölting nun gelungen, den Originaltext angenehm einzudampfen. Diese verdichtete Variante von Nölting versieht Schauspieler Oliver Kraushaar auf der Bühne des Neuen Hauses nun auf tief-eindrückliche Weise mit Sinn und Tiefe. Die dramaturgische Flanke verwandelt der Schauspieler hier also gekonnt und kunstvoll. Kraushaar schafft es zu zeigen, worum es Dostojewski wirklich geht. Der Einzelgänger, das Individuum des Stückes, ist die menschgewordene Kritik an der industriellen Moderne mit all‘ ihren Abgründen. Abgewiesen, ausgestoßen und verunsichert lebt er einerseits entfernt von jeder sozialen Interaktion in seinem Kellerloch. Der gänzlich namenlose Protagonist des Abends versinkt in einer Suada über sein elendiges Dasein, bemitleidet sich, wünscht sich aber im tiefsten Inneren auch dazuzugehören. Wenn er dann in einer Situation ist, in der er mit Menschen in Kontakt kommen könnte, lässt die tiefe Unsicherheit und Unzufriedenheit mit sich selbst jeden Versuch des Sozialen zu einem einzigen Drama verkommen. Dabei wirft Dostojewski besonders Licht auf die ,,Unsichtbaren‘‘ der Gesellschaft, die nicht extravagant, nicht kreativ, nicht speziell, sondern einfach normal und damit automatisch langweilig sind. Er zeichnet hier ein Bild von jenen, die nicht gesehen werden, vielleicht auch nicht gesehen werden wollen.

Sukzessive dem Wahnsinn verfallen

Die tiefe Verzweiflung, die eine solches Leben zur Folge hat malt Kraushaar auf glanzvolle Weise aus. Ja, er stellt seinen Menschen aus dem Kellerloch in die Tradition all jener Hauptfiguren, die sukzessive dem Wahnsinn verfallen und den Weg von der tiefen Traurigkeit über Wut bis hin zu entsetzlichen Zorn und zerstörerischen Hass durchschreiten. Zu Beginn sieht man einen Oliver Kraushaar, der in Anzug und Krawatte den gewöhnlichen Geschäftsmann mimt. Er schmiert sich das Gesicht mit Rasierschaum ein und monologisiert anschließend fast eine Stunde unter einem Regen aus Papierschnipseln, bis seine Beine ob der verrenkten Körperhaltung vor Erschöpfung beben. Als Kraushaar dann von dem Treffen der Hauptperson mit dessen alten Schulfreund Simonow berichtet, kommt ersterer richtig in Fahrt.

Während der Ich-Erzähler von Simonow und seinen Saufkumpanen ignoriert und miss- sowie verachtete wird, kämpft sich langsam die Wut im Erzähler hoch. Kraushaar kostet dieses langsame Crescendo der Wut mit einer spürbaren Genugtuung aus. Er säuft, brüllt, flucht, steigt schließlich volltrunken und weiter brüllend auf die Festtafel und entblößt vor versammelten Publikum sein rotgeschwollenes Rektum. Als dann auch noch einige erboste Alte den Saal verlassen, zeigt sich, dass es sich bei ,,Aufzeichnungen aus dem Kellerloch‘‘ um gutes Theater handelt. Doch das bringt Kraushaar erst richtig in Laune. Während seine nicht richtig geschlossene Hose immer wieder herunterrutscht und die Szenerie fast zu einer absurd-komischen Slapsticknummer wird, steigert er sich immer mehr in seine Rolle hinein. Er flucht das Publikum an, geht einigen Zuschauenden in der ersten Reihe bald an den Kragen und intoniert schließlich mit tiefster Inbrunst das Lied ,,Creep‘‘ von Radiohead. Das Publikum johlt – sehr zu Recht.

Doch nach diesem fulminanten Höhepunkt des Schimpfens auf moderne Gesellschaft, Ideale, Industrialismus sowie die Verlogenheit von allem und jedem, folgt der zweite Teil.

Oliver Kraushaar am Rande des Wahnsinns. Foto: Marcel Urlaub.

Dieses ist zwar nicht mehr so laut und wütend, aber immer noch tiefgehend und stark an Bedeutung. Der Ich-Erzähler folgt seinen Saufkumpanen zum örtlichen Bordell, verführt eine Prostituierte, nur um sie kurze Zeit später mit tiefster Bosheit zu verstoßen und sie auch noch schamlos für ihre Naivität auszulachen. Auch hier gelingt es Kraushaar zu zeigen, dass das Individuum des Dostojewski’schen Werkes keineswegs einfach nur bösartig ist, sondern vielmehr sämtliche erfahrene Schmach und Verletzung an die gesellschaftlich niedriger stehende Position weitergibt. Die moderne Sozialpädagogik würde hier von einem Werdegang ,,vom Opfer zum Täter‘‘ sprechen. Die Frage ist aber viel mehr: Wie konnte es soweit kommen? Wie geschunden muss ein Individuum sein, um sich an scheinbar niederem Volk vergreifen zu wollen und womöglich gar zu müssen?

Dem Schauspieler ein Bühnenbild 

Gelungen an dieser Produktion ist nicht nur die schauspielerische Leistung von Oliver Kraushaar, die überhaupt nicht genug gewürdigt werden kann, sondern auch die Textfassung von Johannes Nölting sowie das Bühnenbild von Katja Pech. Ihr Konfettiregen, der zu Beginn unablässig von der Bühnendecke rieselt, vermittelt eine tief eingängliche Atmosphäre der (inneren) Kälte und Abgeschiedenheit und ist als kleine Reminiszenz an Dostojewskis russische Heimat schlichtweg passend. Auch die Persiflage der Festtafel, für die Pech einfach einen Campingtisch zur Hand nimmt, den sie der ersten Reihe dann auch noch vor die Beine schiebt, sodass aus den Zuschauenden kurzerhand Teilnehmende des Geschehens werden, ist gelungen. Katja Pech gelingt dabei etwas, das oft ein Krux der Monologstücke darstellt – ein eindrucksvolles Bühnenbild zu schaffen, ohne den Schauspieler mit dem Umgang mit selbigen allzu sehr zu (über-) fordern. Gerade die mobilen Elemente, die die Fassade eines Vorstadtpuffs im zweiten Teil des Abends darstellen, sind intelligent gemacht, können gedreht und gewendet werden, dienen als Plattform und sind ein trefflicher Einfall.

Als am Ende das gesamte Produktionsteam unter donnernden Applaus auf die Bühne eilt, treten fast nur junge Menschen vor und Schauspieler Kraushaar ist mit seinen 48 Jahren zweifellos der Älteste. Kluge, frische Geister haben unter der Ägide von Regisseur Max Lindemann und Dramaturg Johannes Nölting ein lobenswertes Stück in Anschlag gebracht und zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Fragen gestellt. Wird man dieser Tage unsichtbar, wenn man sich nicht für Trend und Extravaganz prostituiert? Wie gehen wir als Gesellschaft mit den Einsamen, den Verrückten, den Aussätzigen um? Ist die Gesellschaft, in der wir leben, nicht auch ein verlogenes Moloch?


Die Inszenierung gehört zu den Höhepunkten der laufenden Theatersaison und sei hiermit uneingeschränkt empfohlen – ja, ein Besuch dieses Werkes ist für jede*n Theaterinteressierte*n eine Pflicht. Karten gibt es im Webshop des Berliner Ensembles sowie im Hause an den Tages- und Abendkassen.

Foto: Marcel Urlaub